Calle und Petra mit dem Fahrrad unterwegs in der Sahara
Die Wüste, das ist vor allem der Wind. Heftiger Gegenwind von vorn oder schräg von der Seite, der jede Menge Sand mit sich führt, so dass man das Halstuch am besten hoch über den Mund zieht und nur ein schmaler Augenschlitz bleibt. Und wenn das Fahrrad am Lenker mit zwei schweren Seitentaschen bepackt ist, am Hinterrad noch einmal zwei und dann mitten in einer unvorhersehbaren Böe ein mächtiger Sattelschlepper vorbeizieht, kommt man leicht ins Schlingern. "Dann wird es wirklich gefährlich", sagt Calle.
Calle, der eigentlich Uwe Carl heißt, sieht nicht unbedingt aus wie ein Abenteurer. Ein ruhiger älterer Herr in Latzhose, der gemütlich lächelt. In der Fürbringerstraße hat er eine kleine Fahrradwerkstatt, zuweilen trifft man ihn auch beim Bäcker, wo er morgens frische Brötchen zum Frühstück holt. Nun hat Calle aber auch eine ausgeprägte Leidenschaft für lange Fahrradtouren. Für sehr lange Fahrradtouren sogar. Aber warum ausgerechnet vier Monate lang und mehr als 3000 Kilometer weit durch die Sahara?
Calle sieht das undramatisch. Im Sommerhalbjahr ist Fahrradsaison, da arbeitet er auch als Hausmeister, deshalb kann er überhaupt nur im Winter Urlaub nehmen. Ja, er ist schon mehrfach quer durch Südostasien geradelt, aber Nordafrika liegt eben praktisch vor der Haustür. Tunesien ginge, in Libyen ist Krieg, Algerien lässt Touristen ungern ins Land. Bleibt also Marokko und von dort aus über die West-Sahara und Mauretanien an der Atlantikküste entlang bis in den Senegal. So viele asphaltierte Straßen gibt es in diesem Teil der Welt ohnehin nicht. Soweit der Plan.
Aber es ist halt keine harmlose Nachmittagstour an der Havel entlang, sondern eine richtige Expedition. Das erfordert Vorbereitungen: Calle und Petra entschieden sich für 26-Zoll-Räder, weil die kürzeren Speichen nicht so leicht brechen. Mountainbikes mit Stahlrahmen, möglichst einfache Technik: "Hydraulikbremsen oder ähnlichen Schnickschnack kannst du da nicht gebrauchen!" Wenig Gepäck. Vor allem aber ist es auch eine Frage der inneren Einstellung. Unüberlegte Hektik kann in Extremsituationen tödlich sein. "Hast du Geduld mit der Wüste", sagt Calle, "hat sie auch Geduld mit dir! Man muss mental dazu bereit sein und das findest du nur unterwegs raus." Viel Zeit zum Trainieren hatten sie beide vorher nicht gehabt. Also flogen sie erstmal nach Barcelona, dann weiter mit der Fähre nach Tanger. Im Süden Marokkos entschieden sie sich etappenweise dann immer wieder neu, ob sie weiterradeln wollten oder nicht.
Und wie ist sie nun, die Wüste? "Da fährst du oft 10 bis 15 Kilometer ohne Kurve geradeaus. Aber die Landschaft kann in ihrer Eintönigkeit sehr spannend und unterschiedlich sein! Geröll, roter Sand, leichter weißer Sand. Interessante Farbspiele. Man muss das mögen!" In regelmäßigen Abständen Tankstellen, wo man sich Wasser in Plastikflaschen besorgen kann: "Einen Wasserhahn gibt's da ja nicht!" Eine geordnete Müllentsorgung ebenso wenig, weshalb sich rund um die Tankstellen der Plastikmüll türmt. Immer wieder Kontrollposten von Polizei oder Militär. Übernachtung im Zelt oder besseren Schuppen unter, höflich gesagt, fragwürdigen hygienischen Verhältnissen: "Aber du machst wenigstens mal die Tür hinter dir zu." Auch die Ernährung ist problematisch. "In Mauretanien gibt es kein Brot. An manchen Tagen hatten wir nur Kekse und Ölsardinen."
Eine anstrengende Reise. Für Freundin Petra war es die erste große Tour, deshalb durfte Calle nicht nur sich, sondern auch sie nicht überfordern. Da waren die Etappen mit Rückenwind, an denen sie locker 190 Kilometer am Tag schafften. An anderen nur 20 oder 36 Kilometer und einmal blies der Wind so stark, dass sie Pause machten und sich erst mal im Windschatten einer Holzhütte in Sicherheit bringen mussten. Aber es gab eben auch diese Abende mit den farbenprächtigen Sonnenuntergängen über dem Atlantik, wo Calle dasaß und dachte: "So weit weg! Das ist ja schon irre!" Vielleicht erinnerte er sich in solchen Momenten daran, wie er als fünfjähriger Junge einmal mit seinem ersten Fahrrad einfach die Straße lang zwölf Kilometer weit bis nach Rudow fuhr: "Ich wollte schon immer wissen: Was ist dahinter? Wie geht es weiter?"
Hinter der Wüste kommt der Senegal. Die Landschaft wird grün. Erste Bäume, Dornensavanne. An der Grenze der breite Fluss, Wasser, grünes Schilf, landwirtschaftliche Anbaufläche. Plötzlich wieder Vogelgezwitscher, hier machen viele Zugvögel Pause, um sich vor oder nach der Wüstendurchquerung Reserven anzufressen. Flamingos, Pelikane, reichlich Warzenschweine. Eine französische geprägte Altstadt in St. Louis. Die Menschen wirken entspannter, sind nicht so gezeichnet vom harten Überlebenskampf wie zum Beispiel in Mauretanien. "Im Senegal kannst du schon wieder ein Baguette kaufen. Das kommt dir fast vor wie das Paradies!"
Anfang April sind Calle und Petra von ihrer Wüstendurchquerung zurückkehrt. Und wie fühlt es sich an, nach vier anstrengenden, entbehrungsreichen Monaten, wieder in der Großstadt Berlin? "Das ist anfangs sehr ungewohnt. Wenn du das erste Mal im Kaufland stehst, bist du wie erschlagen. Drei Regal voll mit Käse! Das ist ein Irrsinn! Als ich vor 23 Jahren von meiner ersten Wüstentour nach Hause gekommen bin und über den Hermannplatz lief, dachte ich: Das darf ja alles nicht wahr sein! Wer braucht denn das? Das kommt dir alles doch sehr übertrieben vor. Aber man gewöhnt sich ganz schnell wieder dran."
Info: Calles Reiseberichte