Wie mogblog am Karfreitag die Warteschlange besiegt hat
Das Wort "Impftermin" schillerte bisher wie eine bunte Fata Morgana im Nebel einer ungewissen Zukunft. Ein halbes Jahr, ein dreiviertel Jahr, mochte sein oder auch nicht. Wer Versprechungen von Politikern vertraute, lag in der Vergangenheit meistens daneben. Plötzlich aber bekam das Wort Konturen: Am 30. März beschlossen Bund und Länder, den AstraZeneca-Impfstoff nicht mehr bei Menschen unter 60 Jahren einzusetzen. Damit öffnete sich aber gleichzeitig ein Fenster für die 60- bis 70-Jährigen, die nach bisheriger Planung noch eine ganze Zeit lang hätten warten müssen.
Also war eine Entscheidung gefragt. Impfen oder nicht impfen lassen? Wenn impfen, dann lieber auf das angeblich zuverlässigere Biontech warten oder gleich das vermeintlich riskantere AstraZeneca nehmen (das übrigens künftig den hässlichen Namen "Vaxzevria" trägt)? Nun war der Autor zwar nicht dem väterlichen Ratschlag gefolgt, "etwas Handfestes", also Physik oder doch zumindest Elektrotechnik zu studieren, und hatte stattdessen lieber Hermann Hesse gelesen - besitzt aber trotz allem noch genug Grips, um Impfen eine gute Sache zu finden. Allerdings sind Risiken extrem schwer zu kalkulieren und es fehlen verlässliche Informationen. Warum treten in Großbritannien, das AstraZeneca millionenweise verimpft, anscheinend kaum schwere Nebenwirkungen auf? Dass vor allem jüngere Frauen betroffen scheinen - liegt das vielleicht daran, dass der Stoff hierzulande bisher vor allem an Frauen unter 60 Jahren verabreicht worden ist? Keiner weiß es.
Dann denke ich noch ein bisschen an die Schluckimpfungen im bayerischen Wirtschaftswunderland, wo es niemals auch nur irgendeine Nebenwirkung gab. Daran, dass man dem Schicksal sehr wohl ab und zu durch energisches Handeln ein Schnippchen schlagen kann - andererseits aber auch umgekehrt durch übereilte Aktivität manchmal gerade das Übel auslöst, das es zu verhindern gilt. An den Beipackzettel der letzten Kopfschmerztablette, der so mörderisch war, dass keiner - würde er ihn ernst nehmen oder nur bis zu Ende lesen - je wieder eine einzige Tablette schluckte.
Am Ende konkurrieren zwei Szenarien. Was wäre wohl schlimmer: Mit dem vermeintlichen Spatz in der Hand vorlieb nehmen, der immerhin früher angeflogen kommt als die prächtige Taube, sodann zwei Tage Fieber und Schüttelfrost - oder eben den Gang der Dinge abwarten. Neidvoll danebenstehen, wenn andere mit ihrer Impfung prahlen, und vor allem - falls es den Autor doch noch erwischen und er unerwarteterweise auf der Intensivstation landen sollte - sich vorwerfen müssen, quasi selbst daran schuld zu sein. Dagegen fiel mir kein Argument ein. Also Impftermin.
Soweit die Theorie. Am Karfreitag, 2. April, um 10:36 Uhr rief ich die Berliner Impfhotline an, Nummer 9028-2200. "Dies ist eine Bürgerhotline zur Buchung eines Impftermins", sagte eine nicht unfreundliche weibliche Stimme. Ich sollte diese Stimme noch öfters hören und die Diskussion mit ihr sollte mich einen halben Tag lang beschäftigen.
Dann kommt der erste Wutanfall
Nun existieren auf der Welt Dinge, die sich partout nicht vertragen, ja gegenseitig ausschließen. "Feuer" und "Wasser" ist so ein Begriffspaar, "Berlin" und "Hotline" ein weiteres. Es geht ja nicht immer gleich darum, einen Flughafen zu bauen, aber wer schon länger hier lebt, weiß sehr genau, dass hinter der Telefonnummer einer Behörde niemals ein zuständiges menschliches Wesen sitzt. Sondern immer einer aus einem anderen Ressort, jemand gerade krank ist oder Urlaub hat, das pure Nichts oder jedenfalls eine endlose, nervtötende Warteschlange. Rufen Sie einmal 9028-2853 an. Das ist die Pressestelle der Senatsverwaltung für Gesundheit. Genau das meinte ich.
Aber zunächst ließ sich alles ganz harmlos an. Wer einen Termin ohne vorher zugesandten Buchungscode habe wollte, bedeutete die Hotline, sollte die "eins" drücken. Also drückte ich gehorsam die "eins" und erfuhr: "Ihre Wartezeit beträgt voraussichtlich 23 Minuten!" Na ja, geht schon. Die Dudelmusik nervt, ab und zu heißt es: "Derzeit ist die Hotline stark frequentiert, weshalb es zu längeren Wartezeiten kommen kann. Wir bitten Sie deshalb weiterhin um Geduld und Verständnis." Ja, wissen wir. Und tatsächlich, um 11:07 Uhr meldet sich etwas Lebendes, Weibliches. Der Möchtegern-Impfling bringt etwas nervös sein Anliegen vor. Ihre Antwort: "Da muss ich Sie an die entsprechende Stelle weiterleiten." Knack. Tuut tuut tuut. Rausgeschmissen.
Das ist der Moment, in dem der unbescholtene Bürger, der in seiner wilden Jugend gegen Atomkraftwerke demonstriert, jahrzehntelang brav Steuern gezahlt, weiter nichts Böses getan und allenfalls ab und zu allzu rüpelhafte Radfahrer vom Bürgersteig vertrieben hat, seinen ersten Wutanfall bekommt. Wieso weiterleiten? Hat man nicht genau dazu die "eins" eingetippt? Wieso können einen die nicht verbinden, ohne gleichzeitig die Verbindung zu killen? Können sie nicht einmal, Bundeshauptstadt immerhin, so eine läppische Telefonanlage konfigurieren und vor allem richtig bedienen?
Um 11:08 Uhr startet der zweite Versuch. Diesmal: "Ihre Wartezeit beträgt 26 Minuten!" Aha, es dauert noch länger! "Wussten Sie schon? Ihren Impftermin können Sie auch bequem online ...", flötet die Dame zur Abwechslung. Was schlicht und einfach gelogen ist, weil man AstraZeneca-Termine ausschließlich telefonisch bekommt. Anscheinend haben sie nicht daran gedacht, die Ansage zu aktualisieren. Die Musik nervt zusehends und überhaupt lässt sich das Ganze nur mit Hilfe der modernen Technik bewältigen, dank derer man das Telefon weglegen und nebenher noch ganz andere Dinge erledigen kann.
Zum Beispiel im Netz recherchieren, wie das gestern gelaufen ist. Einen sehr guten Überblick bietet - wie oft bei Corona - rbb24, Schlagzeile: "Technische Probleme bei der Terminbuchung für Impfung". Hier sind vor allem die 126 Kommentare lesenswert. Ein kleiner Auszug: "Nach 10 Stunden habe ich komplett gefrustet aufgegeben." - "Habe auch einen zermürbenden Tag der Fehlversuche hinter mir." - "Von 7 Uhr bis 15 Uhr habe ich über 100 mal angerufen ... keine Chance." - "Gerade gezählt, 52 mal versucht einen Termin zu bekommen, 3 mal in der Warteschleife für gut 30 Minuten, jedesmal dann rausgeflogen." - "Dieses organisatorische Desaster in der Berliner Verwaltung lässt sich weder erklären noch entschuldigen." - "Danke Herr Müller für Nichts."
Durch die Lektüre wird die Stimmung nicht wirklich besser. Aber plötzlich, um 11.37 Uhr, regt sich wieder das Telefon. Eine sehr gestresste, aufgeregte, fast panische Männerstimme: "Ja also, wir haben gar keine Buchungscodes. Eine andere, interne Stelle hat die, aber wir haben sie hier noch nicht. Vielleicht in der nächsten halben Stunde. Ich leite Sie gern weiter zu der Stelle mit den Codes. Oder Sie drücken die "drei", das geht schneller als mit der "eins", und dann kommen Sie direkt dorthin." Er verbindet. Tuut tuut tuut. Rausgeschmissen. Ansage: "Aktuell sind leider alle Plätze belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal."
Die "drei" ist eigentlich die Kurzwahl für allgemeine Informationen. Der Autor wählt die "eins", wählt die "drei" - aber überall hört er jetzt nur noch: "Dies ist eine Bürgerhotline zur Buchung eines Impftermins. Durch das gestiegene Interesse sind aktuell leider alle Plätze belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal." Dann schweift der Blick noch über die aktuelle Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Gesundheit zur neuen Hotline. "Bereits am ersten Tag haben wir eine hohe Nachfrage zu verzeichnen. Seit Beginn des Berliner Impfmanagements wurden Stand gestern insgesamt 1.732.000 Anrufe an der Hotline registriert. Bisher kam es zu keiner Zeit zu Engpässen." Hohe Nachfrage? Keine Engpässe? In welcher Welt leben die eigentlich?
Unter Umständen geht es um Leben und Tod
Im Rückblick ist das der heikle, der entscheidende Augenblick. Offensichtlich funktioniert diese Hotline nicht. Da hängen gerade Hunderte, vielleicht Tausende in lächerlichen Warteschleifen, drücken verzweifelt die "eins", die "drei" und kriegen immer nur die gleiche dumme Bandansage. Und während die Wut allmählich in Resignation umschlägt, wird plötzlich klar: Das ist ja kein Scherz, es geht hier nicht nur - wie sonst vielleicht - um einen zu verlängernden Personalausweis, sondern möglicherweise um Leben und Tod. Wer jetzt aufgibt und ungeimpft bleibt, liegt demnächst vielleicht mit einem schweren Verlauf in der Klinik. Weil er nicht genug Geduld gehabt hat? Nicht beharrlich genug war? Es ist eine sehr seltsame Mischung aus Glücksspiel und Härtetest.
"Aktuell sind leider alle Plätze belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal." - "Aktuell sind leider alle Plätze belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal." - Der Autor probiert es eigentlich nur noch weiter, weil er Stoff für seinen bösen Artikel braucht. Um 12:19 Uhr heißt es ganz überraschend: "Ihre Wartezeit beträgt voraussichtlich 12 Minuten!" Okay, 12 Minuten nehmen wir noch mit. Um 12:31 Uhr läutet es in der Leitung, eine männliche Stimme. "Ja, wenn Sie berechtigt sind, können Sie von mir einen Termin bekommen. Am soundsovielten um soundsoviel Uhr in Tempelhof. Der zweite Termin ist dann Ende Juni. Geben Sie mir jetzt bitte Ihre Daten!"
Ich glaube es nicht, bis 20 Minuten später die Bestätigung per Email eintrifft. Es ist ein gutes Gefühl, ja. Aber ganz verschwindet der Ärger nicht.
Update 10.04.2021: Sehr gute Zusammenfassung der mit AstraZeneca verbundenen Risiken von Kai Kupferschmidt & Gretchen Vogel (Stand: 29.03.2021).