Jede Stimme zählt - nur leider nicht in Berlin
Beim Marathon war gerade die Fünf-Stunden-Gruppe durch. Eine gute Gelegenheit, die Zeit bis zum Besenwagen mit einem Kaffee zu überbrücken und dabei noch schnell zu wählen. War ja gleich um die Ecke. Wählen ist immer etwas Besonderes und weckt Erinnerungen. "Nach dem Gottesdienst können wir gleich wählen gehen", hatte der Vater einmal gesagt. Kirche und Rathaus lagen damals nahe beieinander. Der Stolz beim ersten Mal auf das Erwachsensein. Eine eher unbedeutende Europawahl, als gerade der Krieg in der Ukraine ausbrach - und dem Autor erst richtig bewusst wurde, was für ein Privileg so eine freie, geheime Wahl eigentlich ist.
Wählen also. Weit vor dem Leibniz-Gymnasium in der Fürbringerstraße 33 eine lange Schlange bis zur Zossener. Schnell stellt sich heraus, dass es eigentlich zwei Schlangen sind für zwei verschiedene Wahllokale. An die hundert Menschen stehen herum. "Es dauert eine Stunde", berichtet eine weißhaarige Rentnerin. Auf Pollern an der Kreuzung sitzen ältere Herrschaften, die bald gehen, ohne gewählt zu haben. Schon am Morgen staute es sich, hört man. Bekanntschaften werden gemacht, Erfahrungen mit dem Bürgeramt ausgetauscht. Beim Reisepass, Führerschein, ach du meine Güte! Ein weißhaariger Mann, dem der Autor höflich den Vortritt anbietet, sagt nur: "Macht nichts, bei mir ist auch Sonntag!" Dabei fällt ihm das Stehen sichtlich schwer. Ein Glück, dass es wenigstens nicht regnet.
Notgedrungen zwängen sich die zwei Schlangen für die zwei Wahllokale 304 und 306 gleichzeitig durch eine schmale Schultür, die nach der Wahl auch wieder als Ausgang dient. Vier verschiedene Verkehrsströme in zwei Richtungen durch eine Tür - kein gutes Corona-Management. War da nicht was mit einer vierten Welle? Drei Wahlkabinen in dem engen Raum. Die ehrenamtlichen Wahlhelfer an den Tischen wirken bemüht bis überfordert. Tatsächlich hat am Ende dann alles ziemlich genau eine Stunde gedauert. Beim Hinausgehen fühlt man sich angestrengt und frustriert, die Wartenden draußen hingegen haben noch offene, erwartungsvolle Gesichter. Die Sonne kommt heraus. Zeit für ein, zwei Bier als Vorbereitung auf den langen Wahlabend, denkt man.
Am Abend und am nächsten Tag häufen sich dann haarsträubende Berichte über fehlende oder falsche Stimmzettel und andere Pannen. Ein Rentner aus Charlottenburg-Wilmersdorf berichtet im Magazin Cicero sehr eindrücklich, warum er nicht wählen konnte, auf rbb24 beschwert sich ein 21-Jähriger aus Pankow. Ähnlich Frankfurter Allgemeine, Welt, Berliner Zeitung, B.Z. und andere. Der Spiegel kommentierte bitter: "Berlin, die Spaßdemokratie". Probleme gab es offenbar vor allem in Charlottenburg-Wilmersdorf, Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg. mogblog erreichte inzwischen der Bericht eines Lesers, wonach auch im Wahllokal 116 im Leibniz-Gymnasium zeitweise falsche Stimmzettel verwendet worden seien - verbunden mit der Frage, ob diese Stimmen nun als ungültig gewertet würden.
Die ehrenamtlich tätige Landeswahlleiterin Petra Michaelis zeigte sich am Tag danach auffallend desorientiert. Ihr sei unverständlich, warum in einigen Wahllokalen die Stimmzettel ausgingen, bekannte sie laut Presseberichten und sprach von "vermeintlichen Fehlern und Pannen". Sie selbst könne sich auch nicht erklären, wie es zu falschen Stimmzetteln gekommen sei. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass Michaelis dieses Amt nicht mehr lange behalten wird, zumal sie am Dienstag erst spät eine Aufstellung vorlegen konnte, wer neben den gewählten Direktkandidaten via Landes- oder Bezirkslisten in das Berliner Abgeordnetenhaus einziehen wird.
Trotzdem scheint es eher unwahrscheinlich, dass die Berliner Wahl wiederholt wird. Politikwissenschaftler Timm Beichelt von der Viadrina hält sie laut rbb24 zwar zum Teil für "irregulär". Damit eine Anfechtung Erfolg haben könne, hört man aus Fachkreisen, müsse andererseits aber konkret nachgewiesen werden, dass fehlenden Stimmzettel oder andere Pannen "mandatsrelevante Folgen" hatten - dass dadurch also die Sitzverteilung in einem Parlament verfälscht wurde. Dieser Nachweis gilt als schwierig bis ausgeschlossen. Deswegen bietet es sich vermutlich an, nach der Blamage schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen.
Natürlich trifft das nicht den Punkt. Der Kern einer Demokratie ist einerseits die öffentliche Debatte im Parlament und auf der anderen Seite die freie, geheime Wahl. Das sind ihre Heiligtümer. Dabei besteht das Gewicht einer Stimme oder der Stimmabgabe als solcher nicht darin, dass sie möglicherweise Folgen hat, zum Beispiel auf die Sitzverteilung in einem Parlament. Sie ist die freie Willensäußerung eines freien Subjekts, das nur seinem Gewissen unterworfen ist. In der Wahl - und hier sind diese großen Worte angebracht - spricht der Souverän. "One man - one vote! Jede Stimme zählt!" Wenn ein Staat dieses Grundprinzip der Demokratie nicht mehr garantieren kann oder will, ist das nicht nur ein alarmierendes Zeichen von Schlamperei. Dann steht das große Ganze auf dem Spiel.
Update: Bericht eines Wahlhelfers auf rbb24.