Kurban Said: Ali und Nino
Der Ullstein-Verlag hat "Ali und Nino" von Kurban Said in einem kleinen Format herausgebracht, mit festem Deckel und violettem Lesebändchen, fast schon ein wenig bibliophil - ein handliches Geschenk vom Liebenden an die Geliebte oder umgekehrt, könnte man interpretieren. Und das ist es ja auch: eine hinreißende Liebesgeschichte aus dem Kaukasus am Vorabend der russischen Revolution, zwischen dem mohammedanisch-schiitisch erzogenen Edelmann Ali und der christlich-georgischen Prinzessin Nino, mitten an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien.
Da wird umfänglich darüber debattiert, ob die Frau nur ein Acker ist, der vom Mann befruchtet werden muss, und selbstverständlich unter den Schleier gehört, oder vielleicht doch eine eigene Seele hat. "Frauen sind wie Kinder, nur um vieles listiger und bösartiger", mahnt Alis Vater: "Man soll im allgemeinen eine Frau nicht lieben. Man liebt die Heimat, den Krieg. Manche Leute lieben schöne Teppiche oder seltene Waffen. Der Mann muss die Frau behüten, lieben muss sie ihn. So hat es Gott gewollt." Ganz anders sieht man das natürlich in Ninos georgischem Elternhaus.
Viel Konfliktstoff also. Es sind die stärksten Stellen dieser überaus einfühlsam, selbstironisch und doppelbödig bis zum offenen Sarkasmus, aber immer mit leichter Hand über so viel Abgründigem hingetuschten Geschichte, wenn Autor Kurban Said die gesellschaftlichen Gegensätze an den Akteuren spiegelt. Wenn Nino, das schönste Mädchen der Welt mit den sanften georgischen Augen, im persischen Harem vor Langweile fast zugrunde geht oder der stolze Ali Khan Shirwanshir angewidert zusehen muss, wie die Blicke betrunkener englischer Subalternoffiziere beim Empfang lüstern über den nackten Rücken seiner Liebsten schweifen. "Ungläubige Hunde", dachte er.
Aber "Ali und Nino" ist viel mehr als nur ein sensibler, stimmungsvoller Liebesroman. Es ist eine Kulturgeschichte des südlichen Kaukasus, hin- und hergerissen zwischen Osmanischem Reich, Russland und Persien, zwischen Moderne und Aberglauben, Öltürmen, Autostraßen, Maschinengewehren und alten, überlebten Heldengeschichten - wenige Jahre später ohnehin Opfer des brutalen Marschtritts der sowjetischen Revolution. Eine Welt voller Gegensätze, voller Traditionen, voller Grausamkeit - aber natürlich auch voller Poesie.
Arme Bauern treten auf, die unter dem unverhofften Reichtum des Öls fast zusammenbrechen. Mädchen wählen beim Wasserholen am Brunnen mit einem Blick den künftigen Partner aus, wir werden Zeuge von wilden Entführungen, den Gesetzen der Blutrache und fundamentalistischen Ritualen im schiitischen Teheran. Dann sitzt Ali wieder meditierend auf seiner Dachterasse in der Altstadt von Baku und versucht den aus dem Kaspischen Meer steigenden bleiernen Nebel zu durchdringen, gequält von der schicksalhafte Frage: Was soll ich tun?
Weil der Roman in der kurzen Zeit der aserbaidschanischen Republik vor ihrer Zerstörung durch die Sowjetarmee kulminiert, gilt er als aserbaidschanisches Gründungsepos - nun ja, vielleicht eher eine ins Märchenhafte verschobene Oper. Tatsächlich aber hilft "Ali und Nino", die noch heute andauernden Konflikte in der Region besser zu verstehen, etwa die kürzlich erneut aufgeflammte Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabagh. Russland, die Türkei und der Iran werfen nach wie vor bedrohliche Schatten. Die Moderne erscheint als alternativlos, hat in Zeiten von Klimawandel und sich erschöpfender Rohstoffe aber auch an Glanz verloren. Ganz nebenbei bewundert man die selbstverständliche Weltläufigkeit des ins Exil getriebenen Bürgertums, das sich da in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Mitteleuropa versammelt hat.
Denn nicht nur "Ali und Nino" handelt von Geheimnissen, auch den Autor Kurban Said umgibt ein Geheimnis. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um den 1905 in Baku geborenen Lew Abramowitsch Nussimbaum, der 1920 nach Berlin floh, dort sein Abitur ablegte, vom Judentum zum islamischen Glauben übertrat und sich unter dem Pseudonym Essad Bey als Schriftsteller und Orient-Fachmann einen Namen machte. Vieles spricht dafür, dass er "Kurban Said" als Alias benutzte, um trotz seiner jüdischen Wurzeln weiter im nationalsozialistischen Deutschland publizieren zu können. Nussimbaum starb 1942 im italienischen Positano. In der Fasanenstraße 72 in Charlottenburg, wo er zwischen 1928 und 1930 wohnte, erinnert eine Gedenktafel an ihn.