Karl und Rosa

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Mäusebussard (Buteo buteo): Zieht hoch oben seine Kreise

Ein Mäusebussard schaut sich die Welt gern von oben an. Foto: ks

Vor Jahrzehnten unternahm der Autor im Sommer oftmals ausgedehnte Fußwanderungen, den Neckar entlang, durch die Mittelgebirge, hoch bis zum Rhein. Den aufgeschlagenen Hölderlin-Band in der Hand, Heidelberg, der Vaterlandsstädte ländlichschönste, ja, heute schämt man sich solcher Albernheiten. Der klare Augusthimmel mit den Federwölkchen blieb im Gedächtnis, schrundige Feldwege, abgeerntete, leere Felder und darüber, hoch oben, der typische, an eine miauende Katze erinnernde Bussardruf.

Hier im fünften Stock hingegen das Tatü-tata von Polizei und Rettungswagen, Geschrei und Geknalle vom Bolzplatz, morgens um 5 schrillt die Hochbahn durch die scharfe Kurve am Gleisdreieck. Man stelle sich meine Überraschung vor, als am Ostersonntag, nachmittags, mitten im Großstadtlärm unverkennbar der Ruf eines Bussards zu vernehmen war. Wir haben im Mittenwalderkiez einen Mäusebussard! Genauer gesagt sind es sogar zwei. Manchmal kann man sie sehen, wie sie sich über den Baukränen, getragen von der Thermik, am Himmel immer höher schrauben.

So ein ausgewachsener Bussard hat eine Flügelspannweite von fast 1,40 Metern. Ein veritabler Greifvogel, wild und mutig, der keine Angst vor gar nichts hat. Nicht so ein kleines Vögelchen, das sich von jedem Meisenknödel und jeder ausgestreckten Hand voller Körner bestechen lässt. Was denkt er wohl, während er da oben stolz seine Kreise zieht? "Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei?" Nikos Kazantzakis, Alexis Sorbas, auch so eine Jugendsünde. Fragt sich nur, wie das Vogelpaar heißen soll. Tristan und Isolde? Nach kurzer Überlegung kann es nur eine Antwort geben: Karl und Rosa. Ein Paar Mäusebussarde in Kreuzberg muss politisch korrekt natürlich Karl und Rosa heißen.

Ein paar Tage später trifft der Autor auf dem Friedhof dann Norbert Haag, der dort samstags Führungen veranstaltet. Mäusebussard? Er selbst habe vor Kurzem einen großen Vogel gesehen, berichtet er noch ganz verstört, "der hat sich ein Eichhörnchen gegriffen, das sich mit einem anderen rund um den Stamm gejagt hat. Es hatte nicht aufgepasst! Und es hat so geschrien! Es hat so geschrien!" So ist sie eben, die Natur, denkt man und fühlt sich oder vielmehr das schöne Bild, das man sich von dem majestätischen Vogel gemacht hat, doch ein bisschen beschmutzt.

Auch mit dem Kommunismus war es schließlich so eine Sache. Stalin konnte nicht einschlafen, wenn er nicht zuvor eine Liste mit Todesurteilen unterzeichnet hatte, und Anfang der dreißiger Jahre plagten ihn nicht die geringsten Skrupel, drei Millionen Ukrainer verhungern zu lassen. Mal abgesehen von den Millionen, die er sonst noch umgebracht hat.