Kleiner Fuchs (Aglais urticae): Erst kommt das Fressen und dann die Fortpflanzung
Im Lauf des Lebens gibt es immer wieder Momente, in denen man sich fragt, wer man wirklich ist. Wer bin ich? Wozu bin ich auf die Welt gekommen? Was macht mich aus? Beim Autor hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass sich das überhaupt erst ganz am Ende entscheiden lässt. Jugendfreunde, die sicher waren, dass sie nie in die Fallen gehen würden, in die ihre Väter gingen, bewiesen schon beim ersten Klassentreffen nach zehn Jahren das Gegenteil. Nein, man muss warten bis kurz vor dem Tod. Wenn die Kinder, die Enkel längst aus dem Haus, die Karriere beendet und die Verhältnisse - wie man früher sagte - "geordnet" sind oder eben auch nicht, dann zeigt sich, wer einer gewesen ist. So oder so.
Solche Fragen möchte man gerne einmal an einen Schmetterling richten. Schmetterlinge gelten als Sympathieträger unter den Insekten. Bunt und bezaubernd schaukeln sie im hellen Sonnenlicht von Blüte zu Blüte, heiter, verloren in den Augenblick, und gehören als Symbol für geglücktes, sorgenfreies Leben ins Poesiealbum genauso wie auf die Geburtstagskarte oder aufs Grünen-Wahlplakat - ähnlich der notorischen Sonnenblume oder dem noch viel bedeutungsvolleren Regenbogen. Tatsächlich aber ist so ein Schmetterling - denkt man sich die Flügel weg - nicht viel mehr als ein hässlicher Wurm (was übrigens schon Goethes Mephisto festgestellt hat).
Als Holometabolum verbringt er die ersten Wochen oder Monate als Raupe. Ein sonderbares, walzenförmiges Ding mit 16 Beinen, das meist an einer Blattunterseite hängt und nur einen Auftrag hat: fressen, fressen, fressen! Häufig mit bunten Farben oder Stacheln, um Feinde abzuschrecken, schaut ganz lustig aus, ja, aber mal ehrlich: Will man mit einem so seltsamen Wesen Freundschaft schließen? Nach dem Puppenstadium erscheint dann der Schmetterling. Sechs Beine, Facettenaugen, Außenskelett, keine Lunge, kein geschlossener Blutkreislauf - uns Säugetieren, die auf Kuscheln, Körperwärme und Hautkontakt stehen, kommt das befremdlich vor.
Lebensinhalt des Schmetterlings wiederum ist es nicht, schön zu sein, sondern die Fortpflanzung. Um zwischen all den bunten Blüten, die ihrerseits um Aufmerksamkeit konkurrieren, als Tagfalter überhaupt aufzufallen, braucht es ein farbenprächtiges, unverwechselbares Outfit. Sonst wird das nichts mit der oder dem Liebsten und der Genweitergabe! Insofern unterscheidet sich das, was wir am Schmetterling bewundern, bei näherem Hinsehen nicht wesentlich vom geschickten Einfall einer Werbeagentur, die ein Produkt verscherbeln will. Und das nennt sich bekanntlich Kapitalismus. Was also ist ein Schmetterling? Glücksbringer, geflügelter Wurm oder raffinierter PR-Agent?
Auf dem Foto sehen wir übrigens einen Kleinen Fuchs (Aglais urtica). Einer der schönsten und häufigsten heimischen Tagfalter. Dieses Exemplar hat einen kleinen Schaden am Flügel. Ja, auch Schmetterlinge können behindert sein.