Der Schauspieler Adolfo Assor sucht die Essenz der Dinge
Im Innenhof geht es scharf nach links, eine Tür knarrt vielversprechend, dann viele steile Treppenstufen abwärts. Unvermutet ein Schwall kalte, feuchte, etwas modrig riechende Kellerluft. Schließlich ist der Besucher unten angekommen. In der Tiefe? Im Untergrund? Jedenfalls im Reich von Adolfo Assor. Wo früher einmal von einer Firma Obstliköre abgefüllt wurden, steht der 73-jährige Schauspieler seit 28 Jahren fast jeden Tag auf der Bühne, in seinem kleinen Ein-Personentheater am Viktoriapark.
Ein kleiner, höflicher, alter Mann mit markantem Gesicht. Bescheiden zündet er Kerzen an, verteilt Eintrittskarten und Lutschbonbons an die fünf Zuschauer, die gekommen sind. Ein paar Minuten später hat er den Pullover ausgezogen und erhebt sich mit verstrubbeltem Haar aus seinem Stuhl zu ganzer Größe. »Ich hörte, was im Himmel und auf der Erde geschah«, ruft Assor beschwörend. Ausdrucksvolle Pause. Lauter: »Ich hörte manches, was in der Hölle geschah!« Plötzlich wird aus dem harmlosen, kargen Keller ein geheimnisvoller, angstbesetzter Raum, in dem sogleich ein Mord geschehen wird.
Als der gebürtige Chilene 1986 nach Deutschland kam, so berichtet er im persönlichen Gespräch, blieb er zunächst beim Staatstheater Kassel hängen. »Ein Riesenkonzern. Aber alles so oberflächlich. Ich dachte: Ich bin kein Industriearbeiter, ich bin Künstler!«
Vom Berliner Ensemble war er ebenfalls enttäuscht. Also gründete er seine eigene Spielstätte, zunächst in den Räumen einer früheren Änderungsschneiderei, daher noch heute der Name »Garntheater«. Mit dem Ziel, »der größte deutschsprachige Schauspieler zu werden – was eigentlich nicht so schwer ist«. Assor lacht nicht ohne Selbstironie.
Erst dachte er ja, wegen Shakespeare, Englisch sei die Sprache der Bühne. Doch dann begriff er: Es ist Deutsch: »Die deutsche Sprache ist musikalisch, stark, hat viele Akzente und ist sehr genau.« Nun feilt der spanische Muttersprachler oft tagelang an schwierigen Monologen, an den Pausen, an den Betonungen. Dostojewski, Gogol, Pessoa, Ionesco, Kafka, immer wieder Beckett. Ihm fühlt sich Assor vielleicht am verwandtesten: »Meine Vision der Welt und des Lebens ist die Absurdität, auf alle Fälle.«
In seinem Theater existieren genau 22 Sitzplätze. Die Bühnenbeleuchtung hat er aus Ofenrohren zusammengebastelt. Organisation, Bühnenbild, Werbung – das macht er fast alles allein. Stolz erinnert sich Assor an proppenvolle Vorstellungen. Aber es gab auch »harte Zeiten«, wo Aufführungen mangels Zuschauern ausfielen. Glücklicherweise wurde der Chilene inzwischen vom Film entdeckt, was hilft, finanzielle Lücken zu füllen. Die »Sesamstraße« fand er lustig, eine Episode in »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auch. Aber dann klagt er doch über die »Konsumscheiße« und darüber, dass im Film nur »gemogelt« werde.
Mogeln ist Assors Sache nicht: »Ich will die Realität. Ich gehe zur Essenz der Dinge.« Und dann sagt er noch: »Es hat sich gelohnt.« Manchmal denkt er an seine Geburtsstadt Valdivia zurück, an Aufführungen auf Feuerland vor 200 Leuten, »wo sie so tolle Sombreros« haben. Oder an das Mädchen Soledar, die damals, als er mit zehn Jahren in der Schule erstmals ein Gedicht vortrug, so in ihn verschossen war. Einen Traum hat er übrigens noch. Er, der so meisterhaft den Worten nachspürt und sie zum Leben erweckt, möchte »auf der Bühne eine Figur erschaffen, die kein Wort sagt, nur Präsenz, nur Energie …«
An diesem Abend ist die Vorstellung zu Ende. Fünf Zuschauer applaudieren begeistert und klettern dann aus der Tiefe zurück zur warmen Luft an die Oberfläche. Busse rauschen vorüber, Touristen starren auf ihre Smartphones. Wochenlang war es heiß und trocken gewesen, jetzt das erste Gewitter. In den nächtlichen Straßen duftet es nach warmem Sommerregen.