Bitterer Beigeschmack

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Treptower Park bleibt am 9. Mai fest in russischer Hand

Eine trotzige ukrainische Flagge auf der Treppe zum Mausoleum. Foto: ks

Beginnen wir diesen Text über den Jahrestag der deutschen Kapitulation bzw. der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. / 9. Mai 1945 dort, wo der Artikel vom vergangenen Jahr aufhörte: Die deutsche Erinnerungskultur, hieß es damals, könnte dringend ein Update vertragen. Was hat ein "Tag des Sieges" über den deutschen Faschismus noch zu bedeuten, wenn die Nachfolger der damaligen Sieger inzwischen selbst zu Faschisten geworden sind?

Schwierige Frage. Bitte schön. Ein Trauerspiel in drei Akten.

Erster Akt

Die 2022 gestellte Frage bleibt ungelöst. Meldeten sich damals immerhin Regierende Bürgermeisterin und Innensenatorin zu Wort, tauchen sie in diesem Jahr komplett ab und überlassen die schwierige Arbeit der Berliner Polizei. Diese verbietet am 5. Mai an den drei Gedenkstätten russische und ukrainische Fahnen sowie entsprechende Symbole. Keine gute Idee. Damit werden angesichts des aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erneut beide Länder gleichgesetzt.

Darauf erwirkt der ukrainische Verein Vitsche mit Unterstützung von Rechtsanwalt Patrick Heinemann beim Verwaltungsgericht Berlin, dass das Verbot ukrainischer Fahnen und Symbole kassiert wird, weil es "offensichtlich rechtswidrig" sei. Eine große Leistung und die erste Heldentat in dem Stück. Die Begründung des Gerichts klingt eher weltfremd, offensichtlich sind die Richter am 9. Mai noch nie im Treptower Park gewesen. Aber sie bringen die Dinge in Bewegung. Von der Berliner Polizei wird die Entscheidung akzeptiert.

Die russische Seite zieht nach und erreicht in Person der Pro-Putin-Aktivistin Elena Kolbasnikova, dass nun auch das Zeigen russischer Flaggen erlaubt wird. Im Gegensatz zum Gericht weiß die Polizei jedoch sehr wohl, was ein 9. Mai im Treptower Park mit russischen Flaggen bedeuten würde, und legt gegen den russischen Teil Rechtsmittel ein.

Daraufhin entscheidet das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg: Das Zeigen russischer Symbole an den drei Gedenkstätten bleibt verboten. Begründung: Sie können im aktuellen Kontext als Sympathiekundgebung für die Kriegsführung verstanden werden. Trotz der großen Bedeutung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit beeinträchtigt der "Eindruck eines Siegeszuges" die Würde der Opfer, gefährdet den öffentlichen Frieden und kann eventuell auf vom Kriegsgeschehen persönlich Betroffene einschüchternd wirken. Ebenso werden damit "das sittliche Empfinden ... und grundlegende ethische Anschauungen" verletzt.

Die zweite große Heldentat in diesem Konflikt, sollte man ruhig mal Wort für Wort nachlesen. Das Gericht leistet, wovor sich das politische Berlin seit zwei Jahren drückt: Es unterscheidet berechtigte Trauer und Erinnerung auf der einen von der frenetischen Feier eines völkerrechtswidrigen, brutalen Angriffskrieges auf der anderen Seite - es erlaubt das eine, verbietet das andere. Bravo!

Zweiter Akt

Und was macht die Berliner Polizei daraus im Treptower Park? Sie tritt deutlich entschiedener auf als im vergangenen Jahr. Stand sie damals oft nur freundlich bis verlegen lächelnd neben den verbotenen Putin-Porträts und Sankt-Georgs-Bändchen, kontrolliert sie jetzt offensiv. Das funktioniert im Eingangsbereich gut, am Mausoleum zumindest eine Weile. Die Polizei tut ihr Möglichstes und bekommt den Trostpreis.

Taucht in der Nähe des Denkmals eine ukrainische Flagge auf, versucht das Kommunikationsteam zu deeskalieren. "Selbstverständlich können Sie diese Flagge zeigen. Aber es geht hier doch um Trauer und Erinnerung und niemand möchte ..." Genau. Weil die Ukrainer und ihre Sympathisanten vernünftige Menschen sind, sehen sie das in der Regel ein und gehen nach einer Weile wieder. Die russisch dominierte Menge spendet höhnischen Beifall. Dann spielt einer auf der Treppe zum Mausoleum russische Lieder auf dem Akkordeon. Die Polizei versucht die gleiche Strategie, scheitert und zieht sich mit roten Köpfen zurück. Die Menge tobt. "Rossiya!", schreien sie, "Rossiya!" In diesem Moment kippt die Stimmung. Von nun an ist der hintere Teil der Gedenkstätte fest in russischer Hand.

Als die Polizei Mittagspause macht, tauchen auch die ersten Sankt-Georgs-Bändchen wieder auf. Undefinierbare Fahnen mit dem Slogan "Tag des Sieges!" werden geschwenkt. Putins Rocker erhalten in kleinen Grüppchen Zugang. Jedes Mal: "Urraaa! Urraaa! Urraaa! Rossiya! Rossiya! Rossiya! Sie singen "Katjuscha". Das ist eigentlich ein hübsches Liebeslied, aber eben auch eine propagandistisch aufgeladene Hymne auf den gleichnamigen Raketenwerfer und so etwas wie eine heimliche russische Nationalhymne. Das Lied sei nicht verboten gewesen, heißt es nachher bei der Polizei: "Aber natürlich kommt das auch auf die Situation an!"

Am Nachmittag schafft es ein Pärchen mit ukrainischer Fahne unbeachtet hoch zum Mausoleum und wieder zurück. Als später vier Ukraine-Sympathisanten eine breite blau-gelbe Flagge auf der Treppe entfalten - die dritte Heldentat -, geraten russische und deutsche Putin-Anhänger völlig außer Rand und Band. Die mutige Gruppe wird mit Unflat überschüttet und bedrängt. "Rossiya! Rossyia! Nazis raus! Nazis raus! Faschisten raus aus Deutschland! Rossyia!" Die Polizei muss massiv einschreiten, irgendwann haben die Ukrainer genug und ziehen sich zurück. Die Menge tobt.

Damit nicht genug: In den sozialen Medien kursieren inzwischen einige Videoclips mit erschreckenden Szenen. Obwohl nicht immer aus vertrauenswürdigen Quellen, scheinen sie authentisch. Sie bestätigen den Eindruck, den der Autor selbst vor Ort gewonnen hat: Wer als Ukrainer zu erkennen war oder auch nur mit der Ukraine sympathisierte, konnte sich am 9. Mai im Treptower Park nicht ohne Gefahr für Leib und Leben bewegen - wenn sich nicht gerade ein muskelbepackter Trupp Bereitschaftspolizisten in der Nähe befand. Das ist in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar und verleiht dem Gedenktag im Nachhinein einen sehr bitteren Beigeschmack.

Dritter Akt (spielt in der Zukunft)

Jetzt kann man natürlich für den 9. Mai 2024 eine mächtige ukrainische Gegendemo mit mindestens 50 ukrainischen Flaggen organisieren, die sich dann zum Mausoleum emporarbeitet. Schließlich ist es eine Gedenkstätte für alle Soldaten der Roten Armee und zur Sowjetunion gehörten neben Russland auch die Ukraine, Weißrussland, die baltischen und viele andere Unionsrepubliken. Neben vielen Russen sind im Treptower Park mindestens 1500 Soldaten aus der heutigen Ukraine begraben. Auch sie haben ein Recht darauf, nicht vergessen zu werden.

Okay, keine besonders gute Idee. Also anders: Das Oberverwaltungsgericht hat mit seiner Entscheidung versucht, friedliches Gedenken vom Applaus für einen verbrecherischen Angriffskrieg zu trennen. Wie die Ereignisse gezeigt haben, ist das mit den Mitteln, die der Polizei zur Verfügung stehen oder sagen wir: die sie anzuwenden bereit ist, offenbar nicht möglich. Aber die Gedenkstätte ist auch ein Friedhof. Und es ist keine Selbstverständlichkeit, auf einem Friedhof "Katjuscha" zu singen oder Andersdenkende hemmungslos niederzubrüllen. Es müssen dort auch nicht unbedingt unbelehrbare DDR-Nostalgiker, obskure linke Splittergruppen und rechte Querschwurbler ihre dumpfen Parolen verbreiten.

Wenn großen Teilen des Publikums ein stilles, würdevolles Gedenken nicht möglich ist und sie mit ihrem aggressiven Verhalten (wie es das Gericht zu Recht ausdrückte) den "öffentlichen Frieden" und das "sittliche Empfinden" verletzen, dann fällt dieses Gedenken - zumindest für die Dauer des russischen Angriffskrieges - eben künftig aus. Dann bleibt nur die Lösung, die drei Gedenkstätten für diese Tage komplett zu schließen, und wer ernsthaft um seinen Vater, Großvater oder um sonstige Angehörige trauern will, kann das gerne an einem anderen Tag des Jahres tun. Still, in sich gekehrt und ohne Flagge.