Wie damals in Granada …

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Turgut Altug: Das verlorene andalusische Lied

Cover: tredition GmbH

Turgut Altuğ gehört in Kreuzberg sozusagen zum Inventar. Der 57-Jährige vertritt den Wahlkreis 3 für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und nicht nur in Wahlkampfzeiten sieht man ihn häufig mit seinem bunten Lastenfahrrad durch die Straßen radeln, wo er engen Kontakt zur lokalen Zivilgesellschaft hält. Altuğ hat einen schönen Auftritt im Straßenfest-Trailer von mog61 e.V., mogblog selbst bekam von ihm einen praktischen grünen Flaschenöffner geschenkt - ist also befangen, wie wir gern einräumen. Der Politiker wurde im türkischen Tarsus geboren, ist promovierter Agrarwissenschaftler und Wildbienen-Spezialist. Jetzt hat er ein bemerkenswertes, vielschichtiges Buch geschrieben, in türkischer und in deutscher Sprache.

Yunus kommt aus Istanbul nach Berlin, um auf Wunsch des Vaters Ingenieur zu werden. Dort trifft er Olivia, die er für die große Liebe seines Lebens hält, und es braucht 336 Seiten und viel Liebeskummer, um den Irrtum einzusehen. "Das verlorene andalusische Lied" ist zunächst ein Buch über das Erwachsenwerden. Am Ende hat sich der Protagonist nicht nur gegen den Vater durchgesetzt und herausgefunden, was er wirklich mit seinem Leben anfangen will, sondern sich auch für eine andere Frau entschieden, die ihm seine Kinder gebären wird.

Aber auch Yunus' bester Freund Altay wird erwachsen. Er hat in Berlin sein Coming-out als Homosexueller, was die Beziehung zwischen beiden auf eine schwere Probe stellt. Bis Yunus erkennt, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen nicht mehr zu bedeuten hat als die Vorliebe für ein bestimmtes Essen, etwa "Thunfisch in Nudelgerichten". Es geht also um Toleranz, um Vielsprachigkeit, um Diversität in einer typischen Berliner Studenten-WG, wo Männer und Frauen aus Deutschland, der Türkei, Griechenland, aus Italien und Äthiopien ohne Vorurteile wie selbstverständlich zusammenleben.

Überhaupt ist es ein Berlin-Buch, samt Walpurgisnacht-Randale und den obligatorischen Brandenburger Nazis, in dem der Leser voller Entzücken die eisernen Ornamente an der Admiralbrücke, die dunklen Platanen der Dieffenbachstraße und das Geräusch der Kastanien, wenn sie im Herbst auf die Autodächer herunterprasseln, wiederentdeckt. Und es ist ein Buch über Wein. Mit fast lexikalischer Genauigkeit erfährt man im Weinkurs von Rebecca, wie guter Wein hergestellt wird, und jeder Weinliebhaber hat sicher seine helle Freude an der kenntnisreich beschriebenen Verkostung der türkischen Rebsorte Öküzgözü, auf deutsch: "Ochsenauge".

Aber das alles spielt sich gleichsam nur an der Oberfläche ab, denn "Das verlorene andalusische Lied" ist noch viel mehr, nämlich eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der komplexen Beziehung zwischen Türken und Deutschen. In das aktuelle Geschehen um den jungen Yunus blendet der Autor raffiniert 24 fiktive Briefe von Familienangehörigen ein, die bis zum Jahr 1917 zurückreichen - und über eine Tagebuchnotiz sogar bis 1492, als die sephardischen Juden im Zuge der spanischen Reconquista aus Andalusien vertrieben wurden. Viele von ihnen flohen damals ins Osmanische Reich. Auch das gehört zu Yunus' Identität - dass er kein Moslem, sondern ein Sepharde ist.

Dabei hat Altuğ weniger ein Buch über sephardische Juden geschrieben, eher benutzt er die doppelte Konnotation "Türke" und "Jude" geschickt, um das von Vertreibung und Ausgrenzung im 20. Jahrhundert hervorgerufene Elend plastisch und eindrucksvoll nachzuzeichnen. So kommt der Großonkel von Yunus 1917 nach Berlin, um dort als Uhrmacher zu lernen. Als Jude flieht er vor den Nationalsozialisten in die Schweiz und findet sich nach Kriegsende in der DDR hinter neuen Mauern wieder. Andere Verwandte lassen sich in West-Deutschland als "Gastarbeiter" anwerben. Eine Generation später kehren manche ihrer Kinder wieder in die Türkei zurück, wo sie als "Deutschländer" genauso fremd sind, wie es ihre türkischen Eltern in Deutschland waren.

Es geht um Heimat und Heimatlosigkeit und ein wunderbares Symbol dafür ist das "Café Haymatloz" im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, wo sich die "Almancı" treffen - und manche sogar wie Yunus' Cousine Melike ihre große Liebe. Für Yunus besteht Heimat am Ende darin, den Auftrag seines Urahnen David von 1492 zu erfüllen und die ursprünglich aus Andalusien stammenden Reben auf dem Weinberg der Familie auf Heybeliada, einer der Prinzeninseln im Marmarameer, zu neuem Leben zu erwecken. Heimat ist für ihn nicht nur ein Ort, sondern hat mit Familie zu tun, mit "Verantwortung gegenüber unseren Verwandten, auch den Toten", und damit mit Geschichte, genauer gesagt: mit Erinnerung. Eine deutlichere Gegenposition zur woken "Cancel Culture" lässt sich kaum formulieren.

Von hier aus sind dann viele Entdeckungen möglich. Erinnerung verlangt nach Wurzeln und es fällt auf, dass parallel zur trockenen, zuweilen fast spröden Sprache in dem Buch Musik eine große Rolle spielt. Und natürlich Geschmack. Der Geschmack von Wein, von türkischem Mokka, von spanischen Tostadas - als reichten Essen und Trinken tiefer, als es das bloße Wort vermag. Damit wären wir fast bei dem andalusischen Lied, das Yunus durch das ganze Buch hinweg verfolgt und am Ende - so viel sei verraten - tatsächlich wiedergefunden wird. Aber weiter verraten wir nichts, nur seine drei letzten Zeilen: "Sei unbesorgt, meine welkende Rose in unserem Weinberg in Granada, / Eines Tages werden wir wieder Wein trinken und Lieder singen, / Wie damals in Granada ... "

Info: Turgut Altuğ: Das verlorene andalusische Lied. Roman. tredition, 336 Seiten, 16 Euro.

  1. Turgut Altuğ

    Lieber Klaus,
    lieber mog61 e.V.,
    vielen vielen Dank für diesen tollen Kommentar zu meinem Roman.

    Bis bald!
    Turgut Altuğ