Die Musik gehört allen

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Vor mehr als zehn Jahren hatte Avri Levitan eine Idee

Avri Levitan. Foto: bm

"Das war dieser Moment!", sagt Avri Levitan. Er erzählt vom ersten Konzert von Musethica, schon mehr als zehn Jahre her, vor hundert Kindern mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen. Erst spielten die Musiker ein bisschen Danzi und Friedemann Bach, da hörte das Publikum "ganz schön und höflich" zu. Dann aber die berühmte Chaconne von Johann Sebastian Bach, bearbeitet für vier Bratschen, eines der komplexesten, intensivsten Stücke der ganzen abendländischen Musikgeschichte. "Da war es 16 Minuten völlig still, die Mitarbeiter haben nachher geweint, weil normalerweise können sich die Kinder nur ein oder zwei Minuten lang konzentrieren."

Levitan ist heute noch gerührt. "Offenbar", schließt er, "gibt es eine deutliche Korrelation zwischen der Qualität der Aufführung und der Aufmerksamkeit". Bei sozialen Projekten mit klassischer Musik kämen sonst oft Musiker aus der zweiten Reihe zum Zuge, sagt er, wer "keine Gelegenheit hat, in der Philharmonie aufzutreten". Bei Musethica ist es genau umgekehrt: "Du spielst im Hospiz, du willst dort keine schlechten Musiker haben für das letzte Stück, das die Menschen in ihrem Leben hören. Du willst das nicht für deinen Vater und ich will das nicht für meinen Vater!"

Avri Levitan wurde im Mai 1973 in Tel Aviv (Israel) geboren. Er ist ein weltweit anerkannter Bratschist, dirigiert aber auch gerne, lehrt als Professor an verschiedenen Hochschulen und hat gemeinsam mit der Wirtschaftsprofessorin Carmen Marcuello 2012 in Saragossa (Spanien) Musethica erfunden. Der Name steht für ein Konzept, das die oft im bürgerlichen Elfenbeinturm gefangene klassische Musik einerseits hinaus in die Welt trägt, in Schulen, Gefängnisse, Behindertenwerkstätten, psychiatrische Kliniken und Pflegeheime, dadurch aber andererseits auch begabten Künstlern regelmäßige Konzerte ermöglicht.

Die Resonanz ist umwerfend. Als in einem spanischen Gefängnis das zweite Streichquintett von Johannes Brahms mit dem wunderbaren Adagio vorgetragen wurde, kam ein Gefangener nachher zu Levitan und sagte: "Ich wollte weinen, aber das darf ich hier nicht!" Musethica ist häufig in Gefängnissen zu Gast. "Das ist bequem für uns, die Konzentration ist in der Regel hoch. Jugendliche - Männer wie Frauen - haben etwas weniger Respekt, weniger Disziplin, aber das funktioniert unglaublich. Kürzlich, wir hatten ein langes Programm, zwei, drei waren cool drauf und wollten ein bisschen Witze machen, sie haben gelacht, aber am Ende waren auch sie total unter der Musik. Du hast diesen inneren Dialog mit dir selbst, die Musik ist viel kräftiger. Du kannst nichts machen."

In der öffentlichen Wahrnehmung von Musethica steht meist diese soziale Komponente im Vordergrund. Eigentlich ist das aber nur ein - durchaus erwünschter - Nebeneffekt. Mindestens genauso sehr geht es um die Förderung junger, talentierter Musiker. Weil das im Rahmen ihrer Ausbildung an den Musikhochschulen kaum eine Rolle spielt, sollen sie möglichst häufig öffentlich auftreten mit direktem Kontakt zu einem realen Publikum, außerhalb der üblichen Bubble von Mitstudenten und akademischem Umfeld, bis zu zehnmal in einer Woche - und die Erfahrung zeigt, dass sie dabei immer besser, immer lebendiger, immer intuitiver musizieren. Levitan: "Ich habe nicht gedacht, dass es so ein großes Ding ist, aber ich habe gesehen, meine Studenten, sie machen wirklich unglaubliche Fortschritte!"

Einmal lud er nach so einer Woche mit zehn Konzerten die ganze Klasse in seine Wohnung ein. "Ich habe gesagt: Bitte, seid nicht höflich, ich möchte direkte Antworten, es waren sechs Leute. Was denkt Ihr über diese Woche? Und die Antworten waren so emotional, einer hat gesagt, jetzt verstehe ich, warum ich Musiker bin! Und das hören wir sehr oft. Du spielst ... Die Eltern machen ein bisschen Druck, dann geht es zu einem Wettbewerb, der Zweck ist irgendwie schon vergessen. Und dort, in diesem Moment, da spürt man wirklich, warum wir eigentlich Musik machen. Musik ist ihrem Wesen nach sozial! Sie gehört allen! Musik war die erste Kommunikation zwischen Menschen überhaupt."

Musethica ist ein eingetragener Verein und in zwölf Ländern aktiv mit Schwerpunkten in Spanien, Deutschland, Israel und Schweden. In Berlin sind die Barkonzerte im "Yorckschlösschen" seit einiger Zeit eine feste Adresse. Dort wollten Brigitte Miesen und Allan Boyles vom "Kiezbündnis am Kreuzberg" eines schönen Tages eigentlich nur ein Bierchen trinken. "An dem Abend stand mir der Mund offen. Die haben mit einer Leidenschaft musiziert! Ich fragte Olaf Dähmlow vom Yorckschlösschen und der sagte nur: Das ist hier der Avri, der wohnt da hinten in der Hornstraße!" Flugs beschloss Brigitte, Musethica für den Kiezraum auf dem Dragonerareal zu kapern, und dort sind die Musiker von Avri Levitan nun einmal im Vierteljahr Stammgäste.

Info: Im Rahmen des Musethica Festival September 2023 finden drei öffentliche Konzerte statt: Dienstag, 5. September 2023, 20:00 Uhr Barkonzert im Yorckschlösschen; Freitag, 8. September, 20:30 Uhr Konzert im Kiezraum auf dem Dragonerareal; Samstag, 9. September, 20:30 Uhr Einführung und Konzert ebenfalls auf dem Dragonerareal (im Rahmen des Abschlussfests der diesjährigen Kiezwoche am Kreuzberg). Zu hören sind Werke von Ludwig van Beethoven, Antonin Dvorak, Franz Schubert, Paul Hindemith und Alexander von Zemlinsky. Hier das komplette Programm einschließlich der Auftritte in sozialen Einrichtungen.