Ergreifende Studie zum Thema Zeitlichkeit
mogblog hat nicht nur ein Herz für wilde Tiere im Kiez und die vielen bunten Farben, für die Kreuzberg bekannt ist, sondern auch für die Kunst. Und hier besonders für aufstrebende junge oder aus anderen Gründen noch nicht ausreichend gewürdigte Künstler, die u.E. mehr Aufmerksamkeit verdienen. Deshalb berichtet mogblog nicht nur regelmäßig über die lokale Szene, sondern erlaubt sich auch, hin und wieder einzelne Kunstwerke vorzustellen.
Schwarz auf Weiß #37. Selbstkletternde Jungfernrebe (Parthenocissus quinquefolia) auf Küchenpapier mit Bambusbrettchen ist ein erstaunliches Tableau, das im Titel zunächst auf den Buchdruck verweist, also auf die Schrift. Dem entspricht der scharfe Kontrast zwischen den schwarzen Samen und dem weißen Papier. Im Gegensatz zu einem gedruckten Text entfaltet die eher zufällig wirkende Anordnung aber keine klar identifizierbare Bedeutung. Umgekehrt wird die mit der Wendung "schwarz auf weiß" verbundene Verlässlichkeit geradezu karikiert. Hier ist nichts sicher, hier lassen sich keine eindeutigen Sätze bilden, stattdessen entsteht ein eher musikalisch wirkender Rhythmus, welcher die Fläche füllt. Einen ironischen Bezug zu Goethes Faust ("Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“) darf man voraussetzen. Der in früheren Zeiten sichere Besitz erweist sich als fragil: Wird das Brettchen angehoben, drohen die kleinen Pflanzensamen herunterzufallen.
Steht das Werk also einerseits für die neue Unübersichtlichkeit, wo sich Politiker und Amtsträger heute nicht mehr an das erinnern, was sie gestern versprochen haben, so bezieht es selbst doch Position. "Schwarz auf Weiß" orchestriert zwei gesellschaftlich stark aufgeladene Begriffe und es ist kein Zufall, dass "Schwarz" dabei an erster Stelle steht. Mit einem geleimten Bambusbrettchen, Papier und vor allem den Samen des Wilden Weins verwendet der Künstler ausschließlich organische Materialien, was durchaus als Anspielung auf den Klimawandel zu verstehen ist. Die glatte Oberfläche des Brettchens wird im Küchenpapier mechanisch aufgeraut. Ihm antwortet die auf den ersten Blick willkürlich anmutende Verteilung der kleinen Samen, wodurch eine Vielzahl von individuellen Orten entsteht, von wechselseitigen Bezügen und Begegnungen. Die Suche nach der einen, einzigen Wahrheit wird aufgelöst in körperlich ausgeprägte, rhythmisch angeordnete Bedeutungswolken, Brettchen und industriell produziertes Muster wölben sich zum ertastbaren Relief.
Es handelt sich um eine ergreifende Studie zum Thema Zeitlichkeit. Brettchen, Papier und Samen sind zunächst einfach "da". Aber vermutlich werden sie nicht sehr lange "da" sein, vielleicht liegen die Samen nur zum Trocknen dort und nach einer Weile wandern sie in ein kleines Filmdöschen. So wie alle Menschen sterben müssen, partizipiert auch das Kunstwerk an diesem "Nicht-mehr-da-sein", es ist nicht vorhanden wie ein bloßes Ding, sondern selbst seinem Wesen nach temporär. Anders als etwa die Nägel Günther Ueckers, an die es von fern erinnern mag, transportiert das Tableau jedoch im Kern eine positive, geradezu utopische Botschaft: Die Samen der Selbstkletternden Jungfernrebe, des Wilden Weins mit seiner prächtigen Herbstfärbung - man muss den Einfallsreichtum des Künstlers loben, sich eines so exotischen Materials zu bedienen -, enthalten ja das Versprechen auf künftiges Leben: Wo heute alles "schwarz-weiß" scheint, kann morgen schon Farbe wuchern! Gerade in schweren Zeiten, in diesem zweiten grauen, ermüdenden Corona-Winter, ist das ein ermutigendes Signal.