Gregorianik und frühe Mehrstimmigkeit in Heilig Kreuz
Sie kommen mit Isomatten, Schlafsäcken, Decken und Luftmatratzen. Manche haben eine Thermosflasche mit Kaffee dabei und eine Tüte Weihnachtsplätzchen. Alle diese Utensilien, die eher an einen Campingplatz oder einen Yoga-Wohlfühl-Workshop denken lassen als an ein Gotteshaus, breiten sie auf dem Boden aus und dann, nach einer Weile, erlischt das Licht.
Weih-NachtKlänge ist ein Konzert in der Heilig-Kreuz-Kirche, bei dem man traditionell auf dem Boden liegen darf, um sich ganz dem Klang hinzugeben. Nur ein paar Kerzen leuchten in der riesigen, dunklen Kirche, im Chor noch ein Stern und natürlich der Weihnachtsbaum.
Und dann ertönen Stimmen in der Dunkelheit. Warme, kraftvolle, starke und selbstbewusste Stimmen. Erst vorne am Altar, dann klettern sie hoch auf die Empore und schließlich hat man das Gefühl, sie kämen von überall. Das ist Vox Nostra: Burkhard Wehner, Werner Blau, Amy Green, Susanne Wilsdorf und Ellen Hüningen. Sie singen nicht irgendetwas, sondern Stücke aus dem Gregorianischen Choral und der frühen abendländischen Mehrstimmigkeit.
Das ist sehr weit weg und sehr lange her. Keine Krankenversicherung, keine Rente, ach was, kein Internet, kein Automobil, kein Telefon, noch nicht einmal Dampfmaschine und elektrische Beleuchtung. Shakespeare hatte seine Dramen nicht geschrieben, noch nicht einmal Amerika war entdeckt.
Aber in den Wäldern Europas wuchs, vorerst im Banne des christlichen Glaubens, eine neue Kultur. Schlanke Gesänge, streng und archaisch, schraubten sich fast schwerelos zum Himmel empor. Eroberten vom Grundton aus Quart und Quint, manchmal die Sext, ein tiefer Halteton kam bald hinzu.
Um 1220 komponierte Magister Perotin in der Kathedrale Notre Dame, wo dieses Jahr erstmals seit 200 Jahren keine Christmette stattfand, bereits vierstimmig. »Mundus vergens« – die Welt sinkt dahin, aus heutiger Sicht fast ein wenig prophetisch. Aber was war das auf einmal für eine Pracht!
Nun ist das lange her und die Musik – ohne Dur, Moll und Akzentstufentakt – wirkt auf heutige Ohren ausgesprochen befremdlich. Aber ein schöneres, intensiveres Klangerlebnis wäre in dieser Zeit wohl kaum denkbar gewesen. Nur am Ende, nach langem Applaus, wurde es trotz Fußbodenheizung in der Kirche empfindlich kalt.