mog61 e.V. begleitete die Designerin Heidi Witte (1940 - 2022) in ihren letzten Lebensjahren
Vor mir saß eine kultivierte, eher zerbrechlich wirkende Frau in den Siebzigern, die mit mir eine spannende Konversation begann, als ich sie 2011 zu Hause besuchte. „Mein Sohn hat Kuchen gebracht und ich habe Tee gemacht“, sagte sie zu mir, während sie ihn mir stilvoll in englischer Manier eingoss. Obwohl nur Kuchen statt Scones oder Petits Fours zu diesem „Afternoon Tea“ serviert wurde, fühlte ich mich vergnügt in die viktorianische Zeit eines Agatha-Christie-Romans hineinversetzt.
Heidi erinnerte mich in gewisser Hinsicht an Miss Marple, denn bei beiden fiel als erstes der klare, scharfe, aber auch gütige Blick aus schmalen, strahlend blauen Augen auf. Zwei weißhaarige Damen der oberen Mittelschicht mit liebenswürdigem und ansprechendem Wesen. Miss Marple schien ihr Leben aus dem Erbe ihrer Eltern zu bestreiten, musste aber sehr sparsam wirtschaften. So agierte auch Heidi mit dem Nachlass ihres Mannes. Und wie Miss Marple war Heidi ab und zu mit Strickzeug beschäftigt und konnte sich so manche spitze Bemerkung nicht verkneifen.
Hier hörte aber die Parallele auf. Heidi hatte eine kommunikative Art, die von einem starken Selbstwertgefühl geprägt war. Auf ihre gesprächige und lebhafte Weise erzählte sie gerne Anekdoten und Geschichten aus dem glücklichen Lebensabschnitt mit ihrem verstorbenen Mann und alles, was sie beide erreicht hatten. Sie war extrovertiert und gab nicht so schnell auf, ihr Mann eher zurückhaltend. Da sie beide viel geleistet hatten, wirkten ihre Worte überhaupt nicht überheblich. Ganz im Gegenteil, man konnte Heidi stundenlang interessiert zuhören, da ihre Erzählungen spannend und inspirierend waren. Man musste nur etwas mehr Zeit als geplant mitbringen.
Heidis ausgedehnte Erzählungen und ausführliche Lebensschilderungen wird es nicht mehr geben. Heidi Witte ist am 26.4.2022 gestorben und am 08.06.2022 haben wir zusammen mit ihrer Familie und Freunden in liebevollem Gedenken auf dem Friedhof in der Bergmannstraße Abschied von ihr genommen.
Heidi wurde am 03.02.1940 in Berlin als zweites Kind eines Arztes und einer Modezeichnerin geboren. Als der Vater 1945 nach kurzer britischer Gefangenschaft zurück nach Deutschland kam, fand sich die Familie in Bad Harzburg wieder vereint, wo Heidi unbekümmert ihre Jugend und Schulzeit verbrachte. 1962 machte sie ihren Abschluss als Diplom-Textildesignerin an der Werkkunstschule in Hannover, wo sie ihre große Liebe Dieter Witte kennenlernte, der dort sein Studium als Industriedesigner absolvierte. 1964 heiraten sie und bekamen die Tochter Aino und später den Sohn Richard.
Zwei Jahre später machten sie sich selbstständig und gründeten am Steinhuder Meer das Büro „Die Gestaltung für industriell gefertigten Produkte“. Sie arbeiteten für Hersteller wie Erco, Osram, Rosenthal, Bauknecht, Wilkhahn, Miele, Krups und Staff (heute Zumtobel). Heidi war für den Modellbau, die Farbgebung, die „Verschönerung“ der Zeichnungen sowie die Büroarbeiten zuständig. Dieter Witte verdiente das Geld und so konnte sich Heidi ohne finanziellen Druck ihrer künstlerischen Arbeit widmen. „Ich lass mich vermarkten von der Industrie und du kannst machen, was du willst“, zitierte Heidi ihren Mann gerne in ihren Erzählungen.
Sie war eine überaus produktive, talentierte und selbstständige Künstlerin, die Kunst und Design kreativ kombinierte. Von Malen, Basteln, Nähen, Zeichnen bis hin zur Wandteppich-Herstellung war sie unglaublich vielseitig. Das konnte ich anhand zahlreicher Zeichnungen und Bilder, die sie mir gelegentlich zeigte, feststellen. Alles was sie in die Hand nahm, wurde in kürzester Zeit zu echten Kunstwerken, wie sie immer wieder zu erzählen pflegte. Neben der Kunst machten auch die Kultur und die Musik Heidi und ihren Mann zu Seelenverwandten. Sie genossen die Hochkultur, besuchten Vorträge, Ausstellungen und Museen, gingen ins Theater, in die Oper und Konzerte - vor allem Jazz. Sie bereisten viele Gegenden in und außerhalb Deutschlands, meist auch mit den Kindern. Es war eine sehr glückliche Zeit, wie sie mir immer sagte. Als ihr Mann 2008 starb, verlor sie auch einen Teil ihres eigenen Ich.
Ihr Mann Dieter Witte galt innerhalb der Branche als einer der bedeutendsten Gestalter von Leuchten und Lampen im 20. Jahrhundert, blieb aber nahezu unbekannt in der Geschichte des Industriedesigns. Deshalb hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Namen und sein Werk zu verewigen und zog darum 2010 nach Berlin. Der Nachlass von Dieter Witte – sämtliche realisierten Entwürfe – befindet sich inzwischen im Deutschen Technikmuseum in Berlin. Ferner schrieb sie ihre Memoiren „Bitte kotzt mir nicht in mein Universum“, in denen sie mit Humor, Ironie und Bildern Anekdoten sowie Geschichten aus dem aufregenden, hyperkreativen, einzigartigen Leben des „Designer-Paars“ Heidi und Dieter Witte erzählt. Der erste Teil des Buches erschien in kleiner Auflage im Jahr 2013.
Zwei Jahre zuvor hatte ich Heidi kennengelernt, als mog61 e.V. das Projekt „Künstlerische Aktion Kreuzberger Kids“ durchführte. Zusammen mit anderen Künstler:innen sollte sie Schüler:innen bei der Bemalung von Post- und Verteilerkästen künstlerisch unterstützen. Sie wurde mir damals von Carmen von Cantina Orange empfohlen. Seitdem riss der Kontakt niemals ab. Eine Freundschaft war geboren. Da ich für sie allerlei Kleinkram erledigte, besuchte ich sie öfter zum Tee oder einfach so auf dem Nachhauseweg zum Plaudern. Sie war belesen, reflektiert und informierte sich über aktuelle Ereignisse aus aller Welt. Wir diskutierten über gesellschaftliche und politische Themen, auch über Moral. Obwohl sie immer betonte, dass sie eine Kränkung, die man ihr zugefügt hatte, nie verzeihen würde, hatte sie im Grunde das Herz immer auf dem rechten Fleck.
Sie packte das Leben an, sie war vital und voller Energie. Sie kam zu unseren Veranstaltungen. Sie lieh uns ihre Stimme für unser "Sprechendes Blumenbeet" und vieles mehr. Noch in hohem Alter fing sie an, eine weitere Biographie mit ihren Kindheitserinnerungen zu schreiben. Heidi interessierte sich für fast alles und versuchte sich in Vielem. Sie hatte immer wieder praxisorientierte neue Ideen und Konzepte für eine bessere Welt. Wie zum Beispiel „Das kleine Kreuzberger 1 x 1“: ein kluges Farbenspiel für Jung und Alt zum spielerischen Lernen von Farben, Zahlen und logischem Denken. Leider funktionierte es nicht so gut bei der Vermarktung.
Wie bei ihrem Mann organisierte sie ihren künstlerischen Nachlass und übergab zahlreiche Werke an das Bauhaus-Archiv in Berlin. Aber zum Schluss war sie nicht mehr die quirlige alte Dame von früher. Mit zunehmenden Jahren wurde sie immer unbeweglicher. Die Finger wurden krumm und unbeholfen, was der handwerklich kreativen Heidi sehr zu schaffen machte. Die Wohnung verließ sie nur noch im Rollstuhl und nicht eigenmächtig. Trotz Altersvergesslichkeit, die sich als leichte kognitive Beeinträchtigung bemerkbar machte, war sie aber geistig noch regsam. Nur ihre Lungenfunktion war sehr beeinträchtigt, was das Atmen stark erschwerte.
Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihrem Lieblingslaster zu frönen. Heidi rauchte leidenschaftlich gerne. Sie verqualmte in der Regel zwei große Zigarettenschachteln am Tag bzw. in der Nacht, weil sie nur fünf Stunden Schlaf brauchte. Sie bekam Mangelerscheinungen, wenn sie einmal ein oder zwei Stunden lang nicht rauchte und wurde panisch, wenn ihr Zigarettenvorrat zu Ende ging. Deshalb mussten ihre Helfer:innen diesen mit höchster Priorität aufstocken. Daher war es nicht ungewöhnlich, dass sie mir deswegen mitten in der Nacht eine SMS schickte.
In der Corona-Zeit hat der Verein noch mehr zu ihr gehalten. Zu fünft haben wir uns ehrenamtlich im Namen von mog61 e.V. intensiv um sie gekümmert. Sie genoss das so sehr, dass sie manchmal unsere Hilfsbereitschaft ein wenig überstrapazierte. Aber wir waren gerne für sie da. Die Pandemie brachte auch Schicksalsschläge mit sich. Vergangenes Jahr starb der ihr nahestehende Neffe Daniel an Corona, was sie sehr traf. Sie hatte ihn immer unterstützt und sogar beherbergt, als er wohnungslos war.
Im Februar kam sie wegen eines Sturzes ins Krankenhaus, wo sie leider selbst an Corona erkrankte. Der längere Krankenhausaufenthalt hat ihr stark zugesetzt. Als sie entlassen wurde, war sie verwirrt und hatte geistig abgebaut. In der Woche vor ihrem Tod durfte ich sie zu Hause besuchen, was im Krankenhaus verboten war. Ich war erschrocken, als ich sie wiedersah. Geistiger Verfall: Sie hat mich nicht mehr erkannt. Ein paar Tage später musste sie wegen Atembeschwerden erneut im Krankenhaus, wo sie die Augen für immer schloss. Die blauen Augen von Miss Marple.
Heidi war unser ältestes Vereinsmitglied. Wenn der Schmerz geht, bleibt nur die Erinnerung!
Marie Hoepfner, Vorsitzende des Vereins mog61 e.V.