Sven Heinemann präsentiert Bilder und Erinnerungen aus der Wendezeit
Günther Schaefer stammt aus einem kleinen fränkischen Dorf an der DDR-Grenze. Einige Tanten lebten im Osten, der Rest im Westen. Also fanden sonntags Familientreffen statt: Der Westteil stand mit einem Bettlaken auf einer Aussichtsplattform und ganz weit weg, hinter Zäunen und Sperrgebiet, war dann mit dem Feldstecher auf einem Hügel im Thüringischen ein ganz kleiner weißer Punkt zu sehen: "Das war das Bettlaken unserer Familie", erinnert sich Schaefer. "Das hat mich in meiner Kindheit natürlich sehr geprägt."
Im jugendlichen Übermut hat Schaefer noch ein paar Steinchen über die Mauer geworfen - vermutlich der Grund, warum er nicht mehr in die DDR einreisen durfte. Als die Mauer fiel, war er gerade in New York. Eines der prominentesten Gemälde der "East Side Gallery" stammt von ihm: "Vaterland". Die Synthese einer deutschen und einer israelischen Flagge, die den Tag des Mauerfalls gleichsam am Tag der Reichskristallnacht spiegelt. 57 Mal hat Schaefer das Bild inzwischen restauriert, weil irgendjemand "Free Palestine" oder etwas anderes darübergemalt hat.
Es sind solche Geschichten, die Sven Heinemann in seinem Bändchen "Wahnsinn! Bilder und Interviews zur Wendezeit aus Friedrichshain-Kreuzberg" versammelt hat. Heinemann sitzt im Hauptberuf für die SPD im Abgeordnetenhaus, hat daneben aber Zeit gefunden, Zeugnisse zum Mauerfall zusammenzutragen. Das Büchlein ist 112 Seiten dick, kostet 5 Euro Schutzgebühr (Einnahmen werden gespendet) und überzeugt nicht zuletzt durch eine professionelle grafische Gestaltung und eine klare Typografie. Vor allem aber berühren die Fotos und die sieben Interviews. Bilder von der Oberbaumbrücke, vom Ostkreuz, vom Boxhagener Kiez, oft in strengem Schwarz-Weiß. Menschenmassen, die sich an den offenen Übergängen stauen, ein Grenzer, der mit verschränkten Armen misstrauisch die nach Westen strömenden DDR-Bürger mustert. Gebäude, die es nicht mehr gibt, und immer wieder der furchtbare, leere, menschenfeindliche Mauerstreifen.
Dazwischen stehen Geschichten. Die Geschichte von Bärbel Drogge, die im Narva-Glühlampenwerk im Rudolfkiez gearbeitet hat und im Rückblick meint: "Ich bin froh, dass es so gekommen ist. Aber es ist alles viel zu schnell gegangen. Es gab keine Übergangsfrist und dann wurden viele arbeitslos." Von Edeltraud Pohl, die hinreißend vom Kampf der Samaritergemeinde gegen Obrigkeit und Stasi berichtet. Schließlich kommt mit Angela Leistner auch noch das Szenelokal „Henne“ zu Wort – einst gerade mal fünf Meter neben der Mauer gelegen, an der sich die „Herren der Schöpfung“, wie sich Leistner erinnert, zuweilen „erleichterten“.
Das alles ist sehr menschlich, sehr geschichtsträchtig und ruft viele Erinnerungen wach. „Ach, so sah das damals aus!“, denkt man immer wieder. Während sich die Chipstüte langsam leert, spürt man ein wenig den Hauch der Weltgeschichte und am Ende behält der Ex-Regierende Walter Momper recht, der im Geleitwort über den Mauerfall schreibt: „Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“