Statt wie geplant 2000 fallen - zunächst - nur 400 Parkplätze weg
Es ist ein ambitioniertes Projekt, das deutschlandweit als einmalig gilt und in den vergangenen Monaten weit über Berlin hinaus rege Diskussionen entfacht hat. Am Dienstag stellte das Bezirksamt Details zum geplanten "Graefekiez ohne Parkplätze" vor. Große Überraschung: Der Feldversuch wird deutlich kleiner ausfallen als ursprünglich vorgesehen. War zunächst beabsichtigt, im Kiez mit seinen 22 000 Bewohnern und 2000 Stellflächen im Rahmen eines Experiments alle diese Parkplätze verschwinden zu lassen, soll es nun fürs erste nur ungefähr 400 davon treffen. Ein Schwerpunkt liegt dabei in zwei Teilabschnitten der Böckh- und der Graefestraße.
Mit der Reduzierung trägt der Bezirk rechtlichen Problemen Rechnung, die sich im Konflikt mit der Straßenverkehrsordnung (StVO) ergeben könnten. Annika Gerold (Grüne), Stadträtin für Verkehr, Grünflächen, Ordnung und Umwelt, zeigte sich bei der Präsentation trotzdem unbeirrt: "Öffentlicher Raum ist knapp", sagte sie. "Mit dem Projekt Graefekiez erproben wir gemeinsam mit der Nachbarschaft, wie Straßen der Zukunft aussehen. Wir erhöhen die Verkehrssicherheit, reagieren auf den Klimawandel, verbessern die Situation für Gewerbe und Lieferdienste und schaffen einen verbesserten Zugang zu geteilten Mobilitätsangeboten."
Begleitet wird das Projekt vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), das Anwohner befragen und die Verkehrsentwicklung während des Versuchs auswerten will. Professor Andreas Knie: "Uns freut, dass es jetzt endlich losgeht!" Um die Einbindung von Aktivitäten der Nachbarschaft kümmert sich der Verein Paper Planes, der mit der Idee eines Radwegs unter der Hochbahn zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof jüngst für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. "Wir inspirieren", so Simon Wöhr.
Was geschah bisher?
Die Bezirksverordnetenversammlung beschloss im Juni 2022 einen "Feldversuch zur Neugestaltung des öffentlichen Raums" im Graefekiez. Bis zu einem Jahr lang dürften dort überhaupt "keine privaten Pkw" mehr abgestellt werden. Alle Straßen sollten danach als Spielstraßen ausgewiesen und die Durchfahrt Schönleinstraße gesperrt werden. Als Begründung diente der Klimaschutz: "Eine wirksame Klimapolitik erfordert eine Begrenzung des mobilisierten Individualverkehrs (MIV)", hieß es. Im Hintergrund stand offensichtlich die vom WZB verfolgte These, die meisten Autobesitzer würden sich von ihren Fahrzeugen trennen, wenn nur keine kostenlosen Parkplätze auf der Straße mehr zur Verfügung stünden. Grüne und SPD konnten sich dabei auf eine repräsentative Befragung von rund 1000 Bewohnern berufen, wonach etwa zwei Drittel so ein Szenario im Prinzip gutheißen. Linke, CDU und FDP stimmten gegen den Antrag.
Aber die Stimmung kippte. So meldete sich im Bezirksparlament eine Anwohner:in zu Wort: "Wir haben in unserem Graefekiez kein vernehmliches Auto-Problem. Wir haben vielmehr ... sehr dringliche Lärm-, ... Abfall-, Besucher-, Ratten-, Macho-, sowie Pisse-, Glasscherben- und Kleinkriminalitätsprobleme im gesamten Kiez. Und das tagsüber und bis tief in die Nacht. Weshalb soll das Experiment in einem Kiez durchgeführt werden, der ... mehr als gebeutelt ist? ... Anwohner fühlen sich bereits jetzt mehr und mehr zurückgedrängt."
Und dann begann der CDU-Fraktionsvorsitzende Timur Husein Unterschriften für einen Einwohnerantrag zu sammeln. Titel: "Keine Experimente mit den Menschen im Graefekiez!" Die parkplatzfreie Zone sei familienfeindlich, nicht behindertenfreundlich, verringere die Sicherheit, sei bürgerfeindlich, anwohnerfeindlich, kiezfeindlich und überhaupt ungerecht. Der Antrag bekam 1444 Unterschriften, entkräftete Thesen über die vorherrschende Meinung im Kiez, könnte geholfen haben, Husein ins Abgeordnetenhaus zu tragen, und vielleicht sogar mit dafür verantwortlich sein, dass den Grünen bei der Wiederholungswahl 54 Stimmen fehlten. Obwohl - das beanspruchen natürlich viele.
Was geschieht jetzt?
Der Bezirk reagiert auf den Gegenwind. Das Projekt wird nicht mehr in einem Aufwasch durchgezogen, sondern klugerweise in einzelne Häppchen zerlegt und schrittweise realisiert. In einem ersten Schritt werden in dem Knie Böckh- / Graefestraße (bis zur Kreuzung mit der Dieffenbachstraße) ab Frühsommer 2023 nun insgesamt 80 Parkplätze entsiegelt und umgenutzt. Die Anwohner sind dabei aufgerufen, wie es heißt, "neue Nutzungen zu erproben". Zur gleichen Zeit werden im gesamten Kiez 13 Jelbi-Stationen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit Car-Sharing, Leihfahrrädern und Elektrorollern sowie 37 Lade- und Lieferzonen für Gewerbebetriebe geschaffen, wodurch weitere 320 Parkplätze auf der Strecke bleiben. An der Ecke Schönlein- / Lachmannstraße wird der Schleichverkehr zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße gestoppt.
Parallel dazu erstellt das WZB dann auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein "Verkehrs- und Freiflächenkonzept" für das gesamte Gebiet, welches der BVV dann voraussichtlich im Mai 2024 vorgelegt wird. Überdies hat sich das Wording geändert. Statt von einer "Begrenzung des mobilisierten Individualverkehrs" und weniger Parkplätzen im Dienste des Klimaschutzes ist jetzt viel von "Umnutzung" die Rede, von Schulwegsicherheit und besseren Bedingungen für den Wirtschaftsverkehr. Mit dem expliziten Charakter des Experiments tritt aber auch die Rückholbarkeit in den Hintergrund, d.h. was jetzt alles gebaut wird, verschwindet nicht automatisch wieder.
Was sagt die Straßenverkehrsordnung dazu?
Das scheint tatsächlich ein großes Problem gewesen zu sein. Die StVO erlaubt Verkehrsbeschränkungen in der Regel nur, wenn Sicherheit und Ordnung dies erfordern. Weil im Graefekiez, wie Stadträtin Gerold zugibt, von einer besonderen Gefahrenlage aber kaum gesprochen werden kann, hat das Bezirksamt folgendes Schlupfloch gefunden: In der Böckhstraße wurde vor 40 Jahren ein verkehrsberuhigter Bereich eingerichtet, Verkehrsschild Nr. 325 ("Spielstraße"), mit maximal Schrittgeschwindigkeit. Dieser sei jedoch "baulich nicht entsprechend konsequent umgesetzt" worden, ja es handle sich geradezu um ein "gebautes Missverständnis".
Mit Folgen, so der Bezirk, für die Verkehrssicherheit: "Es wird zu schnell gefahren, es gibt Konflikte mit Lieferverkehren und zudem ist die Straße schlecht einsehbar." Lieferautos würden auf der Fahrbahn anhalten, Radfahrer den Bürgersteig benutzen, heißt es in der Pressemitteilung. Laut Messungen hielten sich weniger als zehn Prozent der Autofahrer an die Schrittgeschwindigkeit. Diese Probleme sollen mit dem "Projekt Graefekiez" nun allesamt behoben werden. Zitat Bezirk: "So wird der stressige Alltag für alle ein wenig entspannter."
Heißt: Wenn es - und das ist ja nicht ganz auszuschließen - in Sachen Graefekiez zu einem Prozess vor dem Berliner Verwaltungsgericht kommen sollte, wird der Bezirk weniger von einem Feldversuch zur Begrenzung des mobilisierten Individualverkehrs sprechen, sondern wohl vor allem mit Schulwegesicherheit und Lieferzonen argumentieren. Unter Berufung auf § 45, Absatz (1b), Satz 1, Nummer 5 StVO: "Die Straßenverkehrsbehörden treffen auch die notwendigen Anordnungen ... zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung".
Ist das stichhaltig?
Ja, nein, natürlich nicht. Es ist ein billiger Trick. Wenn in Kreuzberg irgendetwas wenigstens ein bisschen wie Bullerbü ausschaut, dann der nördliche Graefekiez. Idyllischer, entspannter, entschleunigter, malerischer, kommunikativer geht es überhaupt nicht. Den verhassten Durchgangsverkehr muss man dort seit Jahren mit der Lupe suchen - und findet keinen. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Diagonalsperren, Schwellen, Aufpflasterungen, Fahrbahnverengungen und Querungshilfen, welche die Raser draußen halten, auch Zulieferer und Paketdienste behindern und zum Teil zu labyrinthischen Umwegen zwingen. Aber es wirkt eher albern, erst mutwillig Hindernis auf Hindernis aufzutürmen und diese dann als Begründung zu nehmen, um auch noch die verbliebenen Parkplätze abzurasieren.
Natürlich können Schulwege gar nicht sicher genug sein. Aber viele Schulen in Berlin würden sich wohl über eine Idylle wie in der Böckhstraße freuen. Jeder weiß, dass sich in Kreuzberg kein Autofahrer an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält (Radfahrer auch nicht - man besichtige bitte die Fahrradsstraße am Planufer, wo ebenfalls Schrittgeschwindigkeit gilt). Ein paar zusätzliche Schwellen würden Abhilfe schaffen. Lieferanten halten auf der Fahrbahn, weil alles andere schlicht wegberuhigt ist, und Radler benutzen den Bürgersteig, weil sie das generell sehr gerne tun. Was die geplanten Jelbi-Stationen angeht: In ganz Berlin existiert derzeit eine Handvoll davon. Wenn allein rund um die Graefestraße 13 weitere Stationen eingerichtet werden, wird man den Kiez bald vor lauter Elektroscootern, Elektrorollern und Leihfahrrädern kaum wiedererkennen.
Was sagen andere?
Die Linke hatte im Vorfeld kritisiert, dass die Anwohner bei dem Versuch nur unzureichend beteiligt worden seien. Jetzt zitiert das "Neue Deutschland" eine empörte Bezirksverordnete Gaby Gottwald: "Da wird zunächst mit maximalem Konfrontationskurs die Wählerschaft faktisch der CDU in die Arme getrieben ... und dann bleibt von der Ursprungsidee praktisch nichts übrig! Das ist Stümperhausen, Wählerverdummung!" CDU-Mann Timur Husein twitterte hingegen nach Vorstellung der neuen Pläne: "Dank Einwohnerantrag und CDU ist das Schlimmste verhindert worden. Wir prüfen, ob eine Klage gegen das Mini-Experiment Erfolg haben könnte!"
Wie geht es weiter?
Das wird die Bezirksverordnetenversammlung mit ihrer grün-roten Mehrheit im Frühsommer 2024 entscheiden. Bis dahin hat das WZB ausführlich geforscht und mogblog wettet eine große Tüte Gummibärchen: Spätestens dann stehen die restlichen 1600 Parkplätze im Graefekiez zur Disposition.
Info: Umfängliche Berichterstattung auch in Berliner Morgenpost, Berliner Woche, Berliner Zeitung, rbb24, Tagesspiegel, taz und anderswo.