Poller-Wahnsinn

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Wie die Grünen den Chamissoplatz ruinieren

Durchfahrtsperre an der Willibald-Alexis-Straße: Hier kommt kein Auto mehr durch. Fotos: ks

Am Chamissoplatz gibt es Streit. Die einen meinen, rund um das idyllische Gründerzeitensemble im Bergmannkiez in Kreuzberg seien vom Bezirk insgesamt 66 rot-weiß gestreifte Poller installiert worden. "Nein, in Wirklichkeit sind es sogar 69 davon!", behaupten andere. Der Autor selbst kommt bei der ersten groben Recherche auf genau 67 Säulen. Immer wieder stehen vor Ort Menschen zusammen, die Stimmen überschlagen sich. Was hingegen Sinn oder Unsinn der grellfarbigen Verkehrshindernisse angeht, herrscht weitgehend Einigkeit. mogblog hat in den vergangenen Wochen mit vielen Anwohnern gesprochen: Alle waren sie mehr oder weniger empört.

Was ist das denn? Poller- und Fahrradbügelversammlung in der Arndtstraße.

Ein diesiger Spätwinter-Sonnabend. Ökomarkt am Chamissoplatz. "Es ist schwieriger geworden", hört man an einem Verkaufsstand. "Wir kommen mit dem Transporter grad noch so mit Mühe rum." - "Ärgerlich für die Leute hier, unglaublich. Ja, fotografieren Sie den Blödsinn nur! Der Bezirk spinnt sich aus", wirft einer böse ein. "Das bedeutet längere Weg für die Versorgung, Post, Lebensmittel. Wenn das DHL-Auto da steht, kommt kein Pflegedienst mehr vorbei!" - "Ich find's total affig!" - "Die Hälfte hätte es getan!" - "Und aussehen tut es auch Scheiße!"

Allmählich schaukelt sich die Stimmung hoch. "Voll Schwachsinn", schimpft eine junge Frau. "Für uns ist das Null Verkehrsberuhigung. Viel mehr Stress auch für die Fahrradfahrer, weil die Autos jetzt rumkurven wie verrückt, um einen Parkplatz zu finden. Die rasen dann alle durch die Jüterboger und da wohnen wir!" Übrigens auch ein großer Nachteil für den traditionsreichen Markt, der jetzt in mehrere Teile getrennt ist. "Überall da, wo der Markt eine Mitte hätte, sind jetzt Fahrradständer, Lastenfahrräder, Verkehrsnasen", klagte Betreiber Martin Schmeißer vorwurfsvoll im rbb.

Kein Auto kommt mehr durch

Was ist passiert? Im Zuge einer allumfassenden Verkehrsberuhigung hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Chamissoplatz mit einer ganzen Palette von Maßnahmen bedacht:

Komplette Durchfahrtsperre für Autos in der Arndt- und der Willibald-Alexis-Straße in Höhe des Chamissoplatzes. Wegen der nötigen Wendeschleife bedeutet das auch umfangreiche Halteverbote einige Meter davor.

Gehwegvorstreckungen an den Längsseiten des Platzes mit zusätzlichen Fahrradbügeln und Parkplätzen für Motorroller und Lastenfahrräder.

Zusätzliche Poller und schräg angeordnete Fahrradbügel an den Ecken, die sich als Überquerungshilfen tarnen, wohl aber vor allem Falschparken verhindern sollen.

Das Ergebnis sind die schon angesprochenen 67 rot-weiß gestreiften Poller, eine bisher nicht bezifferte Anzahl von meist unbenutzten Fahrradbügeln und eine ausgesprochen schwierige Verkehrssituation für Autofahrer. Die Nostitzstraße ist von der Bergmannstraße aus Einbahnstraße in Richtung Süden, die Fidicinstraße in Richtung Westen, das heißt wer als Autofahrer den Fehler begangen hat, auf der Westseite des Chamissoplatzes einen Parkplatz zu suchen und keinen findet, kommt da nie wieder vernünftig heraus: Er muss einen Riesenumweg über Tempelhofer Berg oder Mehringdamm, Gneisenau- und Zossener Straße auf die Ostseite einschlagen. Eine richtige Autofalle!

Ganz abgesehen davon, dass die hässliche Verpollerung das Stadtbild zerstört: Immerhin gilt der Chamissoplatz als eines der wenigen fast geschlossen erhaltenen Ensembles aus der Gründerzeit, das auch die Kahlschlagsanierung und Entstuckung der Nachkriegsjahre überstand. Platz und anliegende Straßen stehen samt Kopfsteinpflaster und Gaslaternen unter Denkmalschutz, waren bisher häufiges Ziel von Sightseeing-Touren und dienten sehr gern als Kulisse für Dreharbeiten. In einem Schreiben an Anwohner, das mogblog vorliegt, erklärte das Landesdenkmalamt nun im November, es sei ihm "unverständlich, wie es zu einer so entstellenden Umbaumaßnahme kommen konnte", und forderte eine "Heilung der Angelegenheit".

Jedenfalls keine Überquerungshilfe: Der hohe Bordstein auf der Gegenseite blockiert Rollstuhlfahrer. Man beachte auch das jämmerlich lädierte historische Kopfsteinpflaster.

Zur Begründung der Maßnahmen sagte Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) in einem überaus sehenswerten Beitrag der rbb-Abendschau: "Es geht darum, den Durchgangsverkehr wirklich flächendeckend aus dem Kiez herauszuhalten." Und auf Nachfrage sehr nonchalant: "Es wird sich auch die Be- und Versorgung daran gewöhnen müssen, dass sie eine andere Verkehrssituation vorfinden." Allein dieser eher unglückliche Auftritt dürfte die Grünen bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus am 12. Februar mehr als nur eine Handvoll Stimmen gekostet haben. Zumal es vorher am Chamissoplatz keinerlei Durchgangsverkehr gab, weil der gesamte Bereich längst als lediglich "für Anlieger" frei ausgewiesen ist. Hier die originale Pressemitteilung des Bezirks. Gerold bedankt sich darin bei "allen Mitarbeitenden im Straßen- und Grünflächenamt für ihren tagtäglichen Einsatz für die Verkehrswende und den 'Kiez der Zukunft'." Über diesen "Kiez der Zukunft" wird später an anderer Stelle noch zu reden sein.

Wie auf einem Truppenübungsplatz

mogblog hat zum Thema Poller Exponenten der Zivilgesellschaft befragt, die sich seit Jahren im Kiez engagieren oder beruflich mit Verkehrsplanung beschäftigt sind. Hier das Ergebnis (die Namen wurden anonymisiert):

A. lebt seit 30 Jahren hier, schwärmt heute noch für Che Guevara und hatte kürzlich Besuch von französischen Freunden: "Die haben mich immer beneidet wegen dem schönen Kiez. Sie waren entsetzt und haben gesagt: Das schaut ja aus wie auf einem Truppenübungsplatz! Ich bin passionierter Radfahrer. Aber es ist zu eng geworden! Die Fidicinstraße ist jetzt lebensgefährlich. Wir haben zum ersten Mal Smog, abends um fünf, weil die Autofahrer sich gegenseitig beschimpfen und verzweifelt einen Parkplatz suchen. Die Paketboten liefern nicht mehr und geben die Pakete nur noch an der Packstation ab. Das ist keine intelligente Politik, das ist blöde Ideologie! Die sind bösartig! Ich kann das nur noch als Satire verstehen!"

B. ist so etwas wie ein Urgestein der lokalen Zivilgesellschaft und war zeitweise sogar Grünen-Mitglied. Heute trauert er um Gaslaternen und Kopfsteinpflaster: "Es ist ein Desaster! Eine absolute Verschandelung! Schlimmer geht es nicht. Die Leute sind stinksauer! Das mit dem Durchgangsverkehr ist totaler Nonsens, die Probleme haben sie doch überhaupt erst geschaffen, weil die Nachbarstraßen dicht gemacht wurden! Es geht nur darum, die Autofahrer zu ärgern!" Vor der Wiederholungswahl hat er persönlich Zettel verteilt: "Keine Stimme für die Grünen!" Jetzt freut er sich diebisch, dass er so vielleicht mitgeholfen haben könnte, dass den Grünen am Ende 54 Stimmen fehlten, und triumphiert: "Frau Jarasch hat sich ins Knie geschossen!"

Gegenüber wurden extra Parkplätze für Lastenräder reserviert. Trotzdem steht es dysfunktional auf dem Gehweg.

C. stört als Verkehrsplaner und ausgewiesenen Experten am allermeisten die "massive Präsenz von Hindernissen auf der Fahrbahn. Die rot-weißen Poller erwecken automatisch die Assoziation an eine Baustelle. Die Fahrradbügel an den Ecken sind eine Verlegenheitslösung, um den leeren Raum zu füllen, die Anordnung ist grausam. Das ist alles historisches Material, Bernburger Großpflaster. Das haben sie hier einfach mit Beton ausgegossen, diese furchtbaren Metallnägel, das korrespondiert überhaupt nicht mit dem städtebaulichen Umfeld. Man erzeugt keinen zusätzlichen nutzbaren Raum, keine Aufenthaltsqualität! Veränderungen im Straßenraum müssen sachlich begründet werden. Gibt es eine Verkehrserhebung vorher und nachher? Eine Unfallanalyse? Da würde ich gern einen Nachweis haben, wie viel Durchgangsverkehr hier vorher stattfand. Mit diesen Absperrungen erzeuge ich nur längere Wege."

D. ist bekennender Pazifist, ebenfalls eine Größe im Kiez und stammt aus Schwaben. "Die Allmachtsfantasien der verantwortlichen Behörde haben sich hier wieder einmal Bahn gebrochen. Das löst Irritationen aus. Wenn es nicht schon Wutbürger gäbe, müsste man sie jetzt erfinden! Für die Leute, die hier schon lange wohnen, war das bisher ein behüteter Kiez. Man muss die mit einbeziehen, die es betrifft! Es ist eine Frage des Wie! Es wird alles reguliert um des Regulierens willen! Verkehrsberuhigung? Nicht unbedingt mit Pollern! Viel dringender sollte man das mit den E-Rollern regeln. In Tel Aviv gibt es bestimmte Flächen zum Abstellen. Hier stolpert man ständig darüber."

Manchen bleibt der Mund offen stehen

Aus der Lektüre der hier ausführlich eingerückten Statements lassen sich einige bemerkenswerte Schlüsse ziehen:

Die neue Hässlichkeit: Kein Raum, wo man sich gerne aufhält.

• Die Opposition gegen das ungeliebte "Pollerbü" kommt offenbar weniger von außen, aus den Reihen mobilitätsfanatischer SUV-Piloten oder Vielfahrer, sondern weitgehend aus der grün-rot-roten Community selbst, aus Kreisen, die wohl seit Jahrzehnten Grüne, Linke oder SPD gewählt und niemals ein PS-starkes SUV besessen haben oder auch nur eines besitzen wollten. Sondern klimasensibel mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sind.

Ein Hauptkritikpunkt ist, dass die vom Bezirksamt installierte Verpollerung keinerlei Probleme löst, dass zuvor rund um den Chamissoplatz gar keine gravierenden verkehrsbedingten Probleme bestanden hätten - jetzt aber sehr wohl eine ganze Reihe davon künstlich und ohne Not geschaffen wurde, die Versorgung, Wohlbefinden, Alltag und Verkehr existenziell beeinträchtigen. Das sorgt für Unverständnis und Wut.

Oft begegnet man vor Ort Menschen, denen buchstäblich der Mund offen stehen bleibt. Auch die Anwohner ringen nach Worten, um zu beschreiben, was sie sehen - und finden keine. Man denkt an den Grenzübergang Friedrichstraße während des Kalten Krieges, an ein Gefängnis. Ein komplett reglementierter Raum, voller Gitter, Schranken und greller Alarmzeichen. Während die Entschleunigung der achtziger Jahre den Autoverkehr eindämmte und Freiräume vor allem für Fußgänger schuf, wird hier Bestehendes - in diesem Fall sogar Schönes, Gelungenes, historisch Einmaliges - einfach nur zerstört. Das wirkt dumm und, nun ja, man kann es kaum anders ausdrücken: bösartig.

Update 18.04.2023: Stilistisch minimal verbessert.

5 Antworten

  1. Werner Müller

    Na ja, als Nachklapp passend. Aber wie hältst es mit der Wahl der Qual*?

    Einer der verkehrspolitisch Verantwortlichen wohnt am Platz … Frage den Herrn Schmidt doch mal im Interview, wie er es sieht (!), oder den Justizsenator a.D. Dirk Behrendt und den Noch-Finanzsenator Wesener dazu. Besser frage Stadt-Kiez-Fürst Orlowski, Raimund Helms, Barbara Osterheld und den Ströbele – die liegen alle auf dem Friedhof der “Alternativen Bewegung” auf der Hochebene des Dreifaltigkeits-Friedhofs beisammen … die werden sich aus ihren unterirdischen Lagen erheben und der dort liegende Hans Hartmann, wohnte in der Friesenstraße, wird auf seinem Chapman Stick saitenbeschwingte (Trauer-)Melodien (https://www.youtube.com/watch?v=TY6s0FZT-a4&t=1s) dazu spielen.

    Kann weg, was die da machten, ab in die Mülltonne der Geschichte … (*wie unsere Wahlscheine bei den letzten beiden Wahlen in vielen Wahllokalen hier in Kreuzberg verschwanden). Oder? Da hilft kein Beten und Zedern … Habe gehört, dass viele zur Selbsthilfe griffen … Dreikant sollen bei Bauhaus ausverkauft sein … Außer Spesen nichts gewesen!

    • Beatrice Müller

      Hallo,
      ja interessante Frage. Nun hat Herr Schmidt ja zuvor berichtet, dass er mit Partnerin und zwei Kindern auf 65 qm im Prenzlauer Berg wohnte und sich keine größere Wohnung leisten kann (trotz 8000 Euro Einkommen laut Presse).
      Wie kommt den Herr Schmidt plötzlich zu einer der begehrten Wohnungen am Chamissoplatz? Ich habe eine Idee. Und direkt über mir eine untervermietete Wohnung…..

  2. mogblog

    Es hat uns ein Leserbrief von H. Toebben erreicht, der ursprünglich an den “Spiegel” wg. Bergmannstraße gesandt wurde (“Deutschlandtakt in Berlin-Kreuzberg: Wenn Radfahrer gegen das Tempolimit wettern”; Nr. 12, 18.03.2023), aber auch hier veröffentlicht werden darf:

    Bergmannstraße: “Alle gegen alle”

    F. Weisbrich hat im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die Position „Leiter des Straßen- u. Grünflächenamts“ inne, stellte sich vor Gericht zudem als „leitender Gartenbaudirektor“ vor. Welch bemerkenswert wunderliche Kombination für einen ehemaligen Förster. Wie das in der Praxis aussieht, ist in der Bergmannstraße zu sehen: Weisbrich war maßgeblich beteiligt am Umbau der Bergmannstr. zu einer Fahrrad-Raserstrecke, der jetzigen Veränderung dieser Straße zu einem „Alle gegen alle“. Das Wirken des „leitenden Gartenbaudirektor“ neben der vor Gericht thematisierten „schlampigen Planung“: Im Mittelbereich der Straße wurden Pflanzbehälter aus Zink, die frappant Zinksärgen ähneln, positioniert, an die „Zinksärgen“ graue Müllsäcke angehängt. Die Bepflanzung dieser „Zinksärge“ spottet jeder Beschreibung; das Wirken des amtierenden „Gartenbaudirektors“ Weisbrich ebenfalls. Für diesen ist die Bezeichnung amtierender dilettantischer „Gartendirektor“, Schwerpunkt Baumfällungen, zutreffender, sagen viele Menschen hier.

    Zudem: Seit Herbst 2022 wurden im Chamissokiez, der an die B-straße angrenzt, verkehrliche Umbauarbeiten vorgenommen, die das Erscheinungsbild der dortigen unter Denkmalschutz stehenden Zeitzeugnisse-Ensembles unfassbar verunstalten. Auch hier trug F. Weisbrich dazu bei, dass der 1887 von dem renommierten Gartenbaudirektor H. Mächtig gestaltete Schmuckplatz, der 1890 nach A. von Chamisso benannte Chamissoplatz, der lange zu den schönsten historischen Stadtplätzen zählte, nun nur noch ein verunstalteter Platz ist. Mit Weisbrich wurde leider ein „Bock zum Gärtner“ gemacht.

  3. Helge Großklaus

    Auch als überzeugter Radfahrer halte ich überhaupt nichts davon, Autofahrer zu schikanieren. Genau das scheint mir aber das Hauptanliegen der verantwortlichen VerkehrsplanerInnen zu sein. Wenn ich mir das Ergebnis von Gneisenaustraße bis rauf zur Fidicin (hier wohne ich) anschaue, komme ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus. BERGMANNSTR.: Halbherzigkeit bei der Verkehrsführung, potthäßliche Blechblumenkübel, Schilderwald folgten einem völlig sinnentleerten Punktegepinsel mit DDR-Design-Mobiliar auf der Straße, welches seinerseits hirnrissig und rechthaberisch platzierten Findlingen folgte. CHAMISSOPLATZ: zum Weglaufen. FIDICINSTR.: Parken parallel zum Bürgersteig mit Parken schräg zum Bürgersteig im wilden Wechsel, Schilderwald vor alten Straßenlaternen und Parkautomaten, die nur Münzgeld akzeptieren, für Nicht-Anwohner, die hier sowieso nicht mehr fahren dürfen. Alles zusammen genommen lässt mal wieder das nur einen Schluss zu: Berlin bestätigt mal wieder seinen Ruf als Dritte-Welt-Stadt.

  4. Beatrice Müller

    Ich wohne am Chamissoplatz. Habe Jahrzehnte die Grünen gewählt. Fahre mit dem ÖPNV, dem Fahrrad oder gehe zu Fuß. Dem allen bin ich jetzt völlig entfremdet.
    Die Maßnahmen sind nicht sachlich, sondern ideologisch motiviert. Manchmal dachte ich auch: das ist Neid, Neid, hier nicht leben zu können. Es gibt keine Gewöhnung daran, da bin ich mir sicher, sondern Widerstand. Wir lassen uns den Kiez, den Platz nicht nehmen.