Kreuzberger Gastronomie im Corona-Lockdown (Teil 2)
Was für ein trauriger Dezembersamstag! Grauer Himmel, kalter Ostwind, leere Straßen. Wie früh es jetzt schon dunkel wird! Eigentlich genau der richtige Zeitpunkt für ein erstes, vorsichtiges Feierabend-Bierchen im Backbord, mit dem Rücken zur warmen Heizung. Man könnte gemächlich die neuesten Presseerzeugnisse studieren, später kämen vielleicht Marie und Otmane vorbei und auf dem Tresen gäbe es eine große Schachtel mit Gummibärchen.
Tja. Das war vor Corona. Aktuell ist das Backbord an der Ecke Gneisenau- / Schleiermacherstraße wie alle anderen Kneipen wegen Covid-19 leider zu. Neben dem verrammelten Eingang hängt noch eine Liste mit Bundesligaspielen, hübsche Weihnachtsdekorationen im Biergarten zeugen von der vergeblichen Hoffnung auf ein frühes Lockdown-Ende. Auf den Rollladen hat einer mutig „Fight Capitalism“ gesprayt, immerhin eine gute Losung für die Feiertage.
Wen es so kneipenlos durch unwirtliche Straßen treibt, den verfolgen Erinnerungen. An endlose durchdiskutierte Nächte im Logo mit viel Weizenbier und Schwarzem Tee, an labyrinthische Wege zur Männertoilette und seltsame Begegnungen. Doch auch das sonst rund um die Uhr geöffnete Pub in der Blücherstraße bietet derzeit weder Trost noch Unterkunft. Die Scheiben sind mit Zeitungspapier verklebt, auf Facebook heißt es unerbittlich: “Montag: Ruhetag. Dienstag: Ruhetag. Mittwoch: Ruhetag. Donnerstag: Ruhetag. Freitag: Ruhetag. Samstag: geschlossen. Sonntag: geschlossen.“
Das ist bitter. Aber glücklicherweise gibt es außer den vom Lockdown besonders hart getroffenen Kneipen ja noch die Restaurants. Zum Beispiel das kroatische Split am Blücherplatz. Schon zuvor fielen einem an mehreren Stellen im Kiez fleißig verteilte Werbezettel auf und vor Ort findet man dann eine einladende To-Go-Speisekarte mit Wildschweinbraten nach Art des Hauses, Edlem Hirschgulasch nach Jägerart, Gurmanska Pljeskavica, Frischem Lachsfilet und natürlich auch Gans to go – inklusive Abhol- und Lieferservice.
Bei Curry 36 ein paar Meter weiter tummeln sich deutlich weniger hungrige Gäste als in normalen Zeiten. Zunächst könnte man ja vermuten, dass Imbisse vom Lockdown sogar profitieren. Das Gegenteil scheint zuzutreffen. „Bei uns verhungert keiner, wir haben niemanden entlassen, aber wir spüren das schon“, sagt Chef Lazo. Auch bei den Imbissen fehlen jetzt Stehtische und Sitzgelegenheiten. Wir empfehlen übrigens die leckere Riesenbockwurst mit Kartoffelsalat auf Öl- und keinesfalls auf Mayonnaise-Basis!
Café Atlantic zu, Turandot zu. Bei Lupita hängt ein Schild: „Ab dem 1. Dezember haben wir geschlossen. Wir wünschen Ihnen ein Frohes Weihnachten und ein gesundes Neues Jahr.“ Im Netz verspricht der Mexikaner aber eine „Wiederöffnung am 07.12.2020“. Also bitte beobachten!
Schräg gegenüber lockt der Vietnamese Huong Que an der Bergmannstraße mit einem speziellen Lockdown-Angebot: Bao Chien (Hefekloß mit Curcuma-Tempuramantel, gefüllt mit Hackfleisch, Ei, Morcheln und Schalotten) oder Mi Cay (Kürbis-Nudeln mit Soja-Huhn, Tofu und süßsaurem Senfkohl in scharf-cremiger Soße) oder Rice Bowl (Geschmortes Rindfleisch mit Gemüse, Knoblauch, Ingwer, knuspriger Frühlingsrolle und Spiegelei auf Jasminreis). Alles So-Do 12-21 und Fr-Sa 12-22 Uhr.
Das Que Pasa an der Zossener Straße hat ebenfalls geschlossen, in den Schaukästen hängt nicht einmal mehr eine Speisekarte. Unter der Woche schien es, als ob auch Matzbach am Marheinekeplatz den Laden komplett dicht gemacht hätte. Dabei wollte der neue Betreiber zunächst wohl mit Heizelementen, einer Art Wintergarten und neuer, farbenfroher Speisekarte dem Corona-Winter trotzen. Jetzt aber ist Flohmarkt und beim Matzbach gibt es Glühwein und Crêpes. „Wir probieren das“, heißt es. „Vielleicht künftig auch unter der Woche.“ Also auch hier bitte immer mal wieder gucken.
Jede Menge Essbares wird am Samstagnachmittag natürlich auch in der mäßig gefüllten Marheineke-Markthalle gereicht. Das ist jetzt ernsthaft Heißes, Scharfes, Pikantes, Süßes, Saueres und nicht nur alkoholgeschwängerte Erinnerung. Ein opulenter Gyrosteller von Agora zum Beispiel mit Kraut und goldenen Pommes, diese wunderbare Galette provencale am Stand daneben bei Le Bretagne oder ein paar knusprige Bruschetta zwischendurch von Pasta, e … rechts hinten.
Aber erst der Marktwirtschaft gelingt es, den Corona-Blues wirklich zu vertreiben. Die Fenster sind hübsch weihnachtlich dekoriert und der To-Go-Speise- bzw. Getränkekarte kann nach einem kräftezehrenden Rundgang durch den Kiez niemand widerstehen. Und das kriegt man hier: Kalten Hund mit und ohne Rum, hausgemachten Christstollen, Mandelhörnchen sowie Glühwein, gerne mit Amaretto oder Rum, Heißen Winterapfel (Rum, Weißwein, Apfelsaft, Zimt, Sahne), Irish Coffee, Heiße Schokolade mit diversen Zutaten und Cappuccino mit Mandellikör. Schaut so aus, als wäre der Tag gerettet.
Ein paar Leute mit Getränken in der Hand stehen locker zusammen und plaudern, ohne ungebührlich zusammenzuklumpen. Ein wenig wie früher, als die Welt noch in Ordnung war. Pizza essen ist natürlich etwas schwieriger. Hier bleibt oft nur der kalte Boden, aber Not macht bekanntlich erfinderisch.
P.S.: Eine Leserin hat auf das Kinnaree Thai am Südstern hingewiesen. Während des Lockdowns bietet das Restaurant täglich von 12:30 bis 21:00 Uhr Speisen to go an, ab 25 Euro mit fünf, ab 60 Euro mit zehn Prozent Rabatt. Als Geheimtipp gelten Pla Mük Yang (Tintenfisch vom Lavastein-Grill mit Süßkartoffelchips und Thai-Gurkensalat) sowie Nüa-Na-Rok (Rindfleisch mit Chili, Thai-Auberginen, Langbohnen, Peperoni und Zitronenblättern). Nüa-Na-Rok heißt übersetzt: „Das Feuer in der Hölle“.
(Alle Angaben ohne Gewähr, da sich Öffnungszeiten und Angebote im Moment sehr schnell ändern können.)
Siehe auch: Kreuzberger Gastronomie im Corona-Lockdown (Teil 1)
Petra
Für diejenigen, denen die Kälte nichts ausmacht: Die Pizza von Pizza Pesaro aus der Markthalle ist weltklasse („So spicy, so sexy, so Italian“) und Prosecco dazu macht es perfekt!