Konfliktpunkt Körte

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Warum die Pop-up-Fahrradstraße nicht funktioniert

In der letzten Herbstsonne wirkt die Körtestraße ausgesprochen friedlich. Aber der Schein trügt! Foto: ks

Bis letzten Sommer war die Körtestraße eine komfortable, weitgehend mit sich selbst beschäftigte Wohn- und Geschäftsstraße im Graefekiez. Mit ihren behäbigen, bürgerlichen Wohlstand ausstrahlenden Häusern gilt sie als Beispiel für Gentrifizierung, tatsächlich breitet sich in der Südwestecke fast ein wenig Bergmannstraßen-Glanz aus. Anderen kam sie wegen der alten Bäume, dem breit hingestreckten, in der Herbstsonne silbrig glänzenden Kopfsteinpflaster eher französisch vor. Ja, gewiss, es gab zu viele Autos und sie waren zu schnell unterwegs, das schon.

Inzwischen ist die Körte zum sozialen Konfliktpunkt geworden. Man braucht sich nur an die Ecke Freiligrathstraße zu stellen, vielleicht mit einer kleinen Digitalknipse in der Hand. Schon braut sich Unmut zusammen. "Bist du von der Polizei?", schreit ein dicklicher Mann aufgeregt. "Nee? Dann biste wohl bei der Stasi gewesen? Einmal Denunziant, immer Denunziant!" Bürgermeisterin Monika Herrmann persönlich wurde Opfer solcher Empörung, als sie sich im August mitten in der Nacht einem irregulär verkehrenden Auto in den Weg warf und, wie der "Tagesspiegel" schrieb, "fast auf der Motorhaube" landete. In der Körtestraße liegen die Nerven blank.

Was ist geschehen? Mitte Juli hatte sie der Bezirk zur Fahrradstraße erklärt. Im Handumdrehen, gleichsam als Fortsetzung der vielen Pop-up-Radwege, die schon vorher für Aufregung gesorgt hatten. Auch zwischen Südstern und Urbanstraße spross nun plötzlich ein ganzer Schilderwald: Sackgasse, Abbiegeverbot, Fahrradstraße, Anlieger frei, durchgestrichene Tempo-30-Schilder. Als sich herausstellte, dass sich die meisten Autofahrer davon nicht beeindrucken ließen, wurde die Fahrbahn in Höhe der Freiligrathstraße für den motorisierten Verkehr gesperrt. Dies aber so, dass Radfahrer - mithin auch Autofahrer - rechts und links davon gut passieren können.

Leider ohne große Wirkung. "Es hält sich keiner dran. Das interessiert doch niemanden", hört man im Café Oetcke. Im Fahrradladen gegenüber wird das bestätigt. Wegen Corona habe besonders der Lieferverkehr stark zugenommen. "Die Lieferanten fahren hier alle durch und die Taxis auch. Gefühlt 90 Prozent aller Autos fahren durch." Wenn die Hasenheide verstopft ist, sei die Körtestraße eben immer noch eine willkommene Abkürzung, berichten zwei junge Frauen. Im Vergleich zum Sommer habe sich die Situation immerhin schon verbessert.

Um sich ein Bild zu machen, hat mogblog an einem Wochentag am frühen Abend die Autos gezählt. Dabei war eine Gegenprobe nicht möglich, weil sich bei Fahrzeugen, die an der Sperre abbiegen oder umkehren, nicht entscheiden lässt, ob sie es wegen der Barriere tun oder ohnehin stoppen wollten. Das Ergebnis: Zwischen 15:40 und 16:10 Uhr haben 21 Autos und zwei Motorradfahrer die Schranke passiert. In einem zweiten Untersuchungszeitraum von 16:30 bis 17:00 Uhr waren es 31 Autos und ebenfalls zwei Motorräder oder -roller. Das ist tatsächlich eine ganze Menge.

Die Fahrradstraße selbst stößt vor Ort auf große Akzeptanz. "Traumhaft", freut sich eine ältere Frau. "Für Fahrradfahrer ist das natürlich super!", sagen andere: "Eine gute Idee!" Anwohner hoffen nun auf eine physikalische Sperre, die sich nicht so einfach umfahren lässt - für die kopfsteingepflasterte Freiligrathstraße könnte das allerdings mehr Verkehr und damit auch mehr Lärm bedeuten. Der Bezirk setzt offenbar auf versenkbare, elektronisch steuerbare Poller, damit Rettungsdienste, Polizei und Müllabfuhr nicht behindert werden. Angeblich läuft bereits die Ausschreibung.

Derweil wächst vor Ort der Ärger auf beiden Seiten. Wieder passiert ein Auto die unvollkommene Schranke. "Da!", ruft eine Frau wütend, die ihre Kinder zum Spielplatz bringt, und man sieht die Erbitterung in ihrem Gesicht.


Es ist eine Bühne - aber für welches Stück?

Erwischt! Foto: ks

Es fahren wirklich alle durch. Taxis fahren durch, Handwerker, Pflegedienste, Lieferanten, Lastwagen, Ortskundige, Ortsfremde, Autos mit deutschen und polnischen Kennzeichen, alle fahren sie durch, sogar zwei Polizeiautos mit Blaulicht - aber im Unterschied zu den anderen dürfen sie das. Dabei ist das Schild gar nicht zu übersehen: "Verbot für Fahrzeuge aller Art. Fahrräder frei". Nun ist das nicht so ein schwerwiegendes Verbot wie "Du sollst nicht töten" oder andere Verbote, die Gott damals mit dem Finger auf Steintafeln schrieb, während sein Volk wild um das Goldene Kalb herumtanzte. Aber im Rahmen der Straßenverkehrsordnung hat es durchaus Gewicht und so ähnelt der Kampf von Monika Herrmann gegen das wild gewordene Automobil auch ein wenig dem Kampf Moses, der ja bekanntlich das Goldene Kalb zu Staub zerstampft hat.

Abgesehen davon sind Verbote und ihre Übertretung natürlich hochinteressant für den Psychologen. Was sind das für Menschen, denen so eine klare Ansage gar nichts gilt? Ja, es gibt auch die testosterongeschwängerten Halbstarken, die in ihrem phallischen SUV noch extra Gas geben. Aber viel weniger als erwartet. Junge Frauen mit Kopftuch, Rentner, Familien mit Kindern fahren ungebremst durch. Andere nehmen vorher Tempo weg, gucken sich vorsichtig, gleichsam entschuldigend um - also ob das etwas besser machen würde. Eine Frau bleibt an der Barriere orientierungslos stehen. Als sie von einem anderen Auto überholt wird, schließt sie sich an und passiert.

Es geschehen die erstaunlichsten Dinge. Ein junger Mann durchfährt mit seinem Auto zögernd die heikle Stelle, bremst dann irritiert ab, kehrt um und fährt voller Reue wieder zurück. Ein Rollerfahrer steigt ab, schiebt den Roller über die rot markierte Radfahrerspur, steigt auf und fährt weiter. Zwar einigermaßen sinnfrei, aber vorbildlich! Und plötzlich begreift man: Die simple Schranke ist viel mehr als nur eine Schranke, sie ist eine Art Spiegel, der sichtbar macht, wie man es mit Verboten hält. Das führt schnurstracks zu Über-Ich und zum bewältigten oder eben nicht bewältigten Ödipus-Komplex, aber das verkneifen wir uns hier. Nicht nur Freudianer fänden an der Ecke Körte- / Freiligrathstraße Stoff für mehr als nur eine Doktorarbeit.

Erwischt! Foto: ks

Aus einer Straßenecke ist ein Schauplatz geworden. Eine Bühne für psychische Befindlichkeiten, aber noch für viel mehr. Denn natürlich hängt über allem wie eine dunkle Gewitterwolke die entscheidende Frage: Wer ist schuld? Es liegt nahe, die Autofahrer zum Sündenbock zu erklären. Aber sie verhalten sich nicht viel anders als andere Verkehrsteilnehmer auch. Fußgänger laufen bei Rot über die Straße, Radler radeln auf dem Bürgersteig und Autofahrer fahren eben überall dort, wohin sie ihre vier Räder tragen. Verkehr ist wie Wasser. Das kann man wissen und das hätte auch der Bezirk wissen können.

Es ist immer misslich, Regeln festzulegen, deren Einhaltung niemand kontrollieren kann oder will. Und ziemlich albern, die Schuld nachher bei der Polizei zu suchen, die auch ohne eine aus dem Hut gezauberte Pop-up-Fahrradstraße - aus Gründen - schon überfordert ist. Schaut man genauer hin, scheint hier die Idee, allein mit Schildern und Markierungen Verkehrspolitik zu betreiben, an ihre Grenzen zu stoßen. Die Körtestraße ist oder war keine harmlose Abkürzung, sondern eine wichtige Nord-Süd-Verbindung zwischen Urbanstraße und Hasenheide - die im Unterschied zur Baerwald- über die Lilienthalstraße sogar bis zum Columbiadamm reicht. Auf ihr lastet enormer Druck - und es ist ein frommer Wunsch zu meinen, der würde allein dadurch verschwinden, dass jemand ein paar Schilder aufstellt.

Stattdessen müsste man Verkehrsströme analysieren und Alternativen anbieten. Macht der verbliebene Umweg über Friesen-, Zossener, Gneisenau- und Baerwaldstraße wirklich Sinn? Wie wirkt sich die zusätzliche Belastung für die Baerwaldstraße aus? Auf Urbanstraße und Hasenheide? Muss es unbedingt eine breite Wohn- und Geschäftsstraße mit Läden, Restaurants, Cafés und dem dazugehörigen intensiven Lieferverkehr sein, aus der die Autos verschwinden sollen? Und falls ja, wäre es nicht sinnvoll, Nägel mit Köpfen zu machen und das am Südstern mit Schwellen und Fahrbahnverengungen markant zu signalisieren? Oder die Körte an der Urbanstraße - ähnlich der Tempelherrenstraße - gleich komplett zu schließen?

Erwischt! Foto: ks

So würde eine kompetente Verkehrsplanung wohl vorgehen. Nun beabsichtigt der Bezirk offenbar etwas anderes, nämlich die große Schlacht um das Automobil. "Die Vormachtstellung des Autos und die Zeit der autogerechten Stadt sind vorbei", schreibt Monika Herrmann dazu. Um Autos zu vergrämen, genügen freilich ein paar Verkehrsschilder. Allerdings führt das notgedrungen zu halbgaren Lösungen und löst soziale Konflikte aus. Man könnte einwenden, einen Konflikt zwischen Autofahrern und Radfahrern oder Fußgängern habe es in der Körtestraße schon immer gegeben - er würde durch die missachtete Sperre nur sichtbar gemacht. Das ist nicht ganz falsch. Aber Aufgabe einer seriösen Politik sollte es eigentlich sein, solche Konflikte einzuhegen und durch überzeugende verkehrliche Lösungen zu befrieden.

Stattdessen entsteht vor Ort der Eindruck, diese Konflikte würden eher angeheizt, wenn nicht sogar überhaupt erst inszeniert. Ja, die Ecke an der Freiligrathstraße ist neuerdings eine Bühne. Aber was wird dort gespielt und wer führt es auf? Ist es ein Stück über die moralische Verworfenheit von Autofahrern, die sich (ihrem Wesen nach, möchte man fast hinzufügen) nicht an Verbote halten, sich damit gleichsam selbst ihr Urteil sprechen und als gerechte Strafe aus der Innenstadt zu verbannen sind? Oder ist es ein Stück über eine hemdsärmelig agierende Straßenverkehrsbehörde, die es trotz jeder Menge (sich zum Teil widersprechender; s. u.) Schilder nicht hinkriegt, eine ausgewiesene Fahrradstraße vom schnellen Durchgangsverkehr zu befreien?

Ersteres wäre ein sehr gefährliches Schauspiel, weil es zwar unter Umständen Wählerstimmen bringt, aber unredlich ist, und weil es die Gesellschaft spaltet. Letzteres wäre ein bisschen peinlich.


Im Labyrinth des Schilderwaldes

Die Beschilderung um die Pop-up-Fahrradstraße ist keineswegs immer so eindeutig, wie es zunächst scheint. Mit den Kenntnissen einer vor Jahrzehnten abgelegten Führerscheinprüfung, fachmännischer Unterstützung und viel Internet-Recherche fasst mogblog zusammen (und ist - wie immer - für Ergänzungen und Korrekturen dankbar):

Körtestraße: Fahrradstraße, Anlieger frei, Sackgasse für Autos. Foto: ks

(1) Das bereits erwähnte Verbot für Fahrzeuge aller Art Mitte Körtestraße ist eigentlich eine klare Sache. Trotzdem können u.U. Missverständnisse entstehen. Wer vom Südstern aus einfährt, hat gelernt, dass er sich auf einer Fahrradstraße befindet, Anlieger-Kfz-Verkehr gestattet. Ist er kein Anlieger, hat er ohnehin schon ein Verbot übertreten - dann macht ihm auch die Übertretung des zweiten nichts aus. Ist er jedoch Anlieger, versteht er evtl. nicht, dass jetzt, kurz vor der Freiligrathstraße, plötzlich andere Regeln gelten und dass er wenden muss. Er könnte auf die Idee kommen, dass die Sperre für Nicht-Anlieger gilt und dass er als Anlieger rechts davon passieren darf, zumal sich dort eine große Lücke auftut. Ist natürlich falsch, klar, aber nachher weiß man immer mehr.

Hasenheide. Korrekt: Rechts abbiegen dürfen nur Radfahrer und Anlieger. Foto: ks

Denkt man genauer darüber nach, merkt man, dass eine solche provisorische, durchlässige Sperre wenig dazu taugt, den Durchgangsverkehr fernzuhalten - was sie ja angeblich leisten soll. Stattdessen werden vor allem Anlieger benachteiligt, für welche die Körtestraße im Prinzip durchaus offen ist. All die Handwerker, Lieferanten, Taxis, die in einem Teil der Straße zu tun haben und insofern "Anlieger" sind - aber jetzt plötzlich nicht mehr über den anderen Teil der Körte an- oder abfahren dürfen. Eigentlich ohne einen vernünftigen, einsehbaren Grund. Kein Wunder, dass viele das nicht verstehen, als Schikane empfinden und sich kaum einer daran hält.

(2) Im mogblog-Sympathisantenkreis gibt es eine Diskussion, ob das Sackgassen-Schild am Abzweig Südstern korrekt ist oder ob da nicht besser das neue Schild "Durchlässige Sackgasse für Fußgänger und Radfahrer" (Zeichen 357-50) hingehört. Bisher ohne Ergebnis.

(3) Für große Unklarheiten sorgt der Hinweis "Anlieger frei" zur Fahrradstraße selbst. Auf Anliegerstraßen darf mit dem Auto fahren oder parken, wer dort wohnt, ein Geschäft hat, jemanden besucht, etwas liefert, zum Arzt geht, Pizza isst, Bier trinkt oder auch nur die Absicht dazu hat. Aber eben nur genau auf dieser einen Straße. Laut aktueller Rechtsprechung gilt hingegen nicht als Anlieger, wer die Straße nur benutzt, um eine andere, u.U. seine eigene Anliegerstraße zu erreichen.

Grimmstraße: Fahrradstraße, Anlieger frei. Foto: ks

Angesichts der aktuellen Beschilderung der Körtestraße hat diese Rechtslage enorme Konsequenzen. Wer in der Fontanepromenade oder in der Freiligrathstraße wohnt, dürfte dann ohne weiteres "Anliegen" (s.o.) die Körte weder benutzen noch dort parken - weil er dort kein Anlieger ist, begeht er sonst eine Ordnungswidrigkeit. Der gesamte Straßenzug Fontanepromenade / Freiligrathstraße wird damit von der Urbanstraße abgehängt, weil die nördliche Körtestraße überhaupt nicht mehr befahren werden darf. Man stelle sich einen Sattelschlepper vor, der von der Fontanepromenade gutgläubig in die Freiligrathstraße abbiegt und an der Ecke Körtestraße schlicht feststeckt, weil er dort weder wenden noch diese StVO-konform benutzen kann.

Urbanstraße. Falsch: Nach links in die Grimmstraße abbiegen dürfen tatsächlich nur Radfahrer und Anlieger. Foto: ks

(4) An der Urbanstraße sind am Abzweig Grimmstraße einige Schilder falsch. Der Wegweiser "Klinikum Am Urban" gilt vielleicht für Rettungsfahrzeuge, nicht aber für Ärzte, Kranke, Angehörige oder Taxis. Mit dem Ziel Krankenhaus sind sie in der Grimmstraße keine Anlieger und dürfen sie nicht benutzen. Auch die Abbiegeschilder aus beiden Richtungen treffen insofern nicht zu.

(5) Mit Blick auf das Urbankrankenhaus ist das Anlieger-Dilemma nördlich der Urbanstraße viel größer als in der Körtestraße selbst. Wer zur Klinik will und nicht zufällig in der Grimmstraße wohnt, ist dort nicht mehr erlaubt. StVO-konform ist nur noch die Zufahrt über Dieffenbachstraße (via Graefe- oder Schönleinstraße) oder Planufer möglich. Dies gilt für den großen Besucherparkplatz, für die Mitarbeiterparkplätze am Krankenhaus und auch für Rettungsfahrzeuge, wenn sie nicht im Einsatz sind. Dadurch entstehen gewaltige Umwege und zusätzliche Belastungen eines seinerseits verkehrsberuhigten Wohnviertels. Heilen könnte man das Problem evtl. mit einem Zusatz "Anlieger und Zufahrt Klinikum Am Urban frei" oder gleich "Kfz-Verkehr frei". Abgesehen davon wird die Erschließung des gesamten Graefekiezes ziemlich kompliziert, wenn in der Grimmstraße niemand mehr fahren oder parken darf, der dort nicht wohnt.

Und was lernen wir nun daraus? Offenbar ist ein Netz von Anliegerstraßen nicht unbedingt das Mittel der Wahl, um den Verkehr aus einem Kiez herauszubekommen. Der Bezirk muss sich sagen lassen, dass seine Planung hier einen, höflich gesagt, sehr improvisierten Eindruck macht. Dass die aktuelle Beschilderung der Körte- und Grimmstraße enorme Konflikte und Widersprüche erzeugt und Autofahrer geradezu dazu zwingt, permanent gegen die StVO zu verstoßen, weil sie alltägliche Wege und Besorgungen sonst gar nicht mehr auf die Reihe kriegen. Das sind die Kollateralschäden bei der Entscheidungsschlacht ums Automobil.

Update 18.12.2020: Stilistisch leicht verbessert.

Update 31.12.2020: Dazu ein hochinteressantes Video von @RadXhain