Annäherungen an den türkischen Komponisten Tayfun
In der Buchhandlung "Kommedia" in der Marheineke-Markthalle findet man nicht nur gute Bücher, sondern trifft häufig auch interessante Menschen. Der Autor blätterte gerade ein wenig in "Manhattan Transfer" von John Dos Passos, als ein freundlicher Herr auf ihn zukam und gestand, er habe das Buch gestern auch in die Hand genommen. Wir plauderten ein wenig über Hemingway, dann stellte jemand die steile These auf, dass man zwar Bücher vergessen und nach langer Zeit gleichsam wieder neu entdecken könne - Beethovens 5. Sinfonie aber nie. "Und wie ist es mit Gustav Mahler?", fragte er.
Tayfun ist Komponist. Er spricht nicht so gern über sich und auch nicht über seine Musik. So viel ist immerhin zu erfahren: Tayfun stammt aus Istanbul und hat bei Cemâl Reşit Rey, dem Begründer der zeitgenössischen türkischen Musik, Klavier, Harmonielehre und Komposition studiert. Anschließend besuchte er die University of Indiana in den USA. Sein Eindruck: "Das ist ein sehr isoliertes Land, die haben von nichts Ahnung, auch die Intellektuellen nicht. Die sprechen über Chopin und sagen: Ja, ja, der kommt aus Paris, das liegt doch gleich neben Vietnam!"
Sein chilenischer Lehrer Juan Orrego-Salas sagte zu ihm: "Die Blume, die du in dir hast, wenn du an der Uni bleibst, dann wird diese Blume langsam, aber sicher verwelken." Also schmiss Tayfun im Oktober 1982 hin und flog nach West-Berlin. Ein Freund hatte ihm dort "eine tolle Wohnung" versprochen und die Gelegenheit, für seine Theatergruppe Stücke zu komponieren und auch bezahlt zu bekommen. Aus beidem wurde leider nichts. Aber der Komponist aus Istanbul war in Kreuzberg gelandet, das seine neue Heimat werden sollte.
Ein paar Tage später sitzen wir im "Matzbach" am Marheinekeplatz und diskutieren. "Was ist das für eine Musik, die du machst?", frage ich den Mann mit der riesigen Brille und dem imposanten Schnauzer. Von der Avantgarde, der Neuen oder Zeitgenössischen Musik, hält er wenig. "In Deutschland herrscht eine Diktatur von Avantgarde, wenn man das nicht macht, gilt man nicht als ernsthafter Komponist. Ich benutze das, aber ich will nicht zwei Stunden lang so einen Quatsch machen." Als Demonstration singt Tayfun spontan in einer sehr schrägen, schrillen Tonfolge: "Bring mir das Glas!" Um dann sofort einzuwenden: "Aber warum soll ich das singen? So eine dumme Sache interessiert niemanden. Du kannst einfach sagen: 'Bring mir das Glas!' und separat dazu Musik machen."
Es geht um das Verhältnis von Text und Musik. Mein Gesprächspartner meint, dass die abendländische Oper seit den 1930er Jahren tot ist und man künftig andere Wege gehen muss, um Sprache und Musik zusammenzubringen. Im türkischen Kulturraum existiert die Tradition des Âşık, des wandernden Geschichtenerzählers. Schon Bertolt Brecht träumte von einem "epischen Musizieren". Wie das funktionieren könnte, hat Tayfun 1985 in der "Ararat Legende" demonstriert, einem musikalischen Drama nach einer Novelle von Yaşar Kemal. Von den vielen Stimmen der Oper bleibt nur die Erzählerin, eingebettet in ein Orchester aus Klavier, Synthesizer, Percussion, Kontrabass, Sopransaxophon und den traditionellen türkischen Instrumenten Ney und Saz.
Schon in der Ouvertüre entstehen prächtige, rhythmisch konturierte Klangflächen, durchbrochen vom expressiven Saxophon. Immerhin hatte sich Tayfun nicht weniger vorgenommen, als das "blaueste Blau der Welt, dunkel, samten und weich" zum Klingen zu bringen. Dabei sind Jazz-Elemente unüberhörbar. Das reicht bis in die Schulzeit in Istanbul zurück. Der Vater eines Freundes war ausgesprochener Jazz-Fan. "Wenn wir bei ihm waren, haben wir die ganze Zeit nur Jazz gehört. Die ersten großen Platten. Dave Bruback, Stan Getz oder Bill Evans. Erst viel später habe ich erfahren, dieser Vater arbeitete sehr wahrscheinlich für den türkischen Geheimdienst. Der Dienst hat mich mit dem Jazz infiziert."
Tayfun hat sich nie gescheut, seine Meinung kund zu tun. Er schrieb Musikkritiken für die taz und wetterte gegen den "Türkenbonus", das fast automatische Lob der "Gastarbeiterkultur" in links-liberalen Kreisen - was aber nichts anderes sei als eine "passive Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit, Ignoranz und faule Selbstgefälligkeit gegenüber der Kultur des anderen". Er selbst hat sich nicht nur intensiv mit der türkischen Kultur, sondern auch mit dem abgeschotteten Leben der türkischen Neuankömmlinge in Kreuzberger Hinterhöfen beschäftigt. "Was will Niyazi in der Naunynstraße?" heißt sein aufwändiges Musik-Literatur-Bild-Drama, das 1987 in der Akademie der Künste uraufgeführt wurde.
"Entschuldigung", unterbricht er in diesem Moment unser Gespräch, "ich muss Margit anrufen!" Margit ist seine große Liebe, vielleicht auch so etwas wie sein Schicksal. Gleich nach Tayfuns Ankunft in Berlin hat er sie kennen gelernt, eine junge Frau aus dem Rheinland, die hier Politologie studierte. Ende 1989 erkrankte Margit plötzlich an Multipler Sklerose und seit mittlerweile 27 Jahren kann sie nicht mehr sprechen und ist inzwischen völlig gelähmt. Tayfun ist überwältigt von ihrem Lebenswillen, von ihrer Liebe zum Dasein, wie er es interpretiert. Und seither, scheint es, komponiert er fast nur noch für sie.
Seine dritte, 2001 erschienene CD "Dreams and Dances of a Silent Butterfly" ist nichts anderes als eine Hommage an die um ihr Leben kämpfende Freundin. Neben anderen sind Gebhard Ullmann (Sopransaxophon, Bassklarinette) und Renaud Garcia-Fons (Kontrabass) mit dabei, von der Musikpresse wurde das Album hoch gelobt. Es sind 17 innige, eher heitere als traurige Liebeslieder, Keith Jarrett schaut immer wieder grüßend herein und in Track 13 wird sogar der gestrenge Johann Sebastian Bach zu einer elegischen Valse Musette verführt.
Und dann sagt Tayfun doch noch ein paar Worte über die Musik. Genau wie die Liebe besitze sie die Macht, schreibt er im Begleitheft, uns auf Reisen zu schicken, hinein in die Tiefen der Hölle oder in die höchsten Sphären des Paradieses. "Wenn wir Glück haben, ein Leben lang. Und wenn nicht, gut, dann wenigstens für einige Sekunden."
Dreams and Dances of a Silent Butterfly, Track 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Marilou
Ein interessante Porträt!
Genie und Wahnsinn sind eng verbunden. (Edgar Allan Poe)
Uwe Flamme
Dein Artikel hat mir gut gefallen