Plötzlich fangen 13 Männer auf der Straße laut zu singen an
Die Fête de la Musique am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, ist ein unbestrittener Höhepunkt des Festkalenders in Berlin. Wegen der Corona-Pandemie sollte sie heuer leider schon wieder ausfallen. Ja, nicht wirklich ausfallen, aber es waren eben nur an die 50 Live-Stream-Konzerte auf der Website des Organisationskomitees geplant. Kultursenator Klaus Lederer mag es toll finden, Musik "über sehr viele verschiedene Kanäle an die Leute zu bringen". Aber mal ehrlich: Wenn die Sonne heiß vom Himmel brennt, am Abend die Schatten immer länger werden und auf dem Kneipentischchen ein kühles Bier das andere ablöst: Wer braucht da ein Live-Stream-Konzert?
Glücklicherweise war auch Harald vom "unterRock" in der Fürbringerstraße genau dieser Ansicht. Er hatte schon einige Wochen zuvor Anfragen von befreundeten Bands bekommen und dann begann er eben zu improvisieren. Das mit dem Bier brauchte er nicht zu improvisieren, aber er improvisierte ein paar zusätzliche Tische, eine kleine Bühne, ein bisschen Elektronik und einen Sichtschutz gegen die untergehende Sonne. Es gab noch etwas Mundpropaganda und als dann die "Late Night Tipplers" am Abend zur Gitarre griffen, war die Straße sofort voll.
In Kreuzberg geht so etwas eben. Da müssen nicht erst aufwändig Straßen gesperrt oder rot-weiße Barrieren errichtet werden, stattdessen wird improvisiert. Die meisten Autos machten ohnehin freiwillig kehrt, andere wurden vorsichtig im Schritttempo durch die rund 150-köpfige Menge geleitet. Wenn kein Platz mehr an den Tischen war, gab es Platz auf der Straße. Und alles mit Abstand. Selbst zwei Polizeibeamte, die einmal kurz vorbeischauten, machte nur freundlich darauf aufmerksam, sich doch bitte nicht an fremde Kraftfahrzeuge anzulehnen. Prima Stimmung!
Und dann - die erste Band war gerade fertig - tat sich auf einmal etwas. Männer. Fremde Männer. Genau 13 fremde Männer! Stellten sich in einer Reihe auf die Straße, summten kurz ihre Einsatztöne und fingen dann mit lauten Stimmen a capella zu singen an. Es war ein Schock! Natürlich kann man auf der Bühne an der Hauswand zur schrillen Gitarre immer wieder monoton "Da ist etwas faul!" vor sich hin rappen, wie das nachher "Masterplan B" tat. Aber es ist etwas völlig anderes, mitten im Publikum zu stehen und plötzlich aus voller Brust mehrstimmg loszusingen!
Dreimal traten die Männer vom KMC auf ("Der KMC" kann als "Der Kreuzberger Männerchor" verstanden werden - aber dazu gibt es keine offizielle Bestätigung), jeweils in den Umbaupausen. "Lieder von Hoffnung, Widerstand und gegen das Vergessen", wie es auf ihrer Website heißt. Gewerkschaftslieder, Lieder ukrainischer Anarchisten und italienischer Partisanen, Lieder aus Chile und zum Abschied das herzzerreißende "The Parting Glas" aus Schottland. Offenbar waren sie sich im Vorfeld gar nicht sicher gewesen, ob solche Themen auch im eher als bürgerlich verschrienen Kreuzberg 61 ankommen würden. Und wie sie ankamen! Wir freuen uns natürlich besonders, hier Live-Mitschnitte von sechs Liedern präsentieren zu können.
Es war eine wunderbar leichtfüßige und sehr entspannte Fête de la Musique. Eine Kampfansage an den Live-Stream und auch eine Rückkehr zu den eher improvisierten Wurzeln: Eine riesige Bühne mit Toningenieur und einer aufwändigen Verstärkeranlage, stellte sich heraus, ist entbehrlich. Stattdessen genügt es völlig, in guter Stimmung zusammen auf der Straße zu musizieren. Überdies war das Bier wie gewohnt kühl und süffig. "Mir hat es tierisch Spaß gemacht", sagte Wirt Harald nachher. "Ich habe viel positive Resonanz bekommen."
Info: Nächstes Konzert des KMC am Sonntag, 22. August 2021, um 16 Uhr in der Regenbogenfabrik (hier das Plakat).