Es sind zu viele Menschen gestorben

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Jamila Aghrili berichtet von Krieg und Frieden in Aserbaidschan

Jamila Aghrili. Foto: ks

Kreuzberg ist ein wunderbarer Ort, um Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu treffen. Jamila verkauft in meiner Lieblingsbäckerei Kaffee, Schokobrötchen und andere Leckereien. Zufällig stellt sich heraus, dass sie aus Aserbaidschan stammt – und da ist gerade Krieg! Man sieht die Sorgen in ihrem hübschen Gesicht, wir sprechen über die Theke hinweg ein wenig über Politik und ein paar Tage später erzählt sie ihre Geschichte.

Jamila Aghrili stammt aus Nachitschewan, einem Gebiet im südlichen Kaukasus, das zwar zu Aserbaidschan gehört, aber keine Landverbindung dorthin hat. Wer nach Baku fahren will, muss entweder fliegen oder einen Umweg über den Iran machen, weil Armenien dazwischen liegt. Und weil Armenien und Aserbaidschan verfeindet sind, ist die Stimmung immer ein bisschen angespannt.

Ihr Deutschlehrer in der Schule war als sowjetischer Soldat in der DDR gewesen und schwärmte von Ordnung und Pünktlichkeit. „Ich dachte: Okay, wäre schön, wenn ich da irgendwann sein könnte!“, erinnert sie sich. Inzwischen spricht Jamila außer Aserbaidschanisch, Türkisch, Englisch und Russisch auch fließend Deutsch. Seit 2017 studiert sie an der Viadrina in Frankfurt (Oder) Sprachen, Kulturen und Kommunikation.

Berlin kennt sie vor allem vom Jobben. Einmal sah sie auf dem Alexanderplatz einen Kerl mit einem zwei Meter hohen Holzkreuz herumlaufen. „Ich weiß nicht, was das war. Vielleicht Kunst. Jedenfalls ein bisschen verrückt. Hier ist, glaube ich, alles möglich!" Nur mit der Pünktlichkeit ist es so eine Sache. Nach Berlin benutzt sie den Regionalexpress. „Nicht pünktlich! Immer Ausfall, Ausfall, Ausfall. Bauarbeiten, wie heute!“, lacht sie.

Im Moment schreibt sie ihre Masterarbeit über "Kulturelle und nationale Identität in Aserbaidschan nach dem Ende der Sowjetunion" - die junge Republik im Kaukasus ist gerade mal zwei Jahre älter als sie selbst. Dabei geht es auch um Karabach. Bergkarabach ist eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region in Aserbaidschan, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zusammen mit angrenzenden Gebieten von Armenien besetzt wurde. Nun, mehr als 25 Jahre später, holte sich Aserbaidschan mit Rückendeckung der Türkei große Teile davon wieder zurück. Der Krieg ist mittlerweile beendet, Armenien hat die Niederlage eingestanden, aber die Folgen für die Balance der Mächte vor Ort sind noch gar nicht absehbar.

Jamilas Familie wohnt nicht im strittigen Gebiet, aber sie hat sich trotzdem große Sorgen gemacht. "Im Krieg kann man nie wissen, was morgen passiert. Es gab armenische Raketenangriffe auf Zivilisten." Auch ehemalige Schulkameraden mussten kämpfen, glücklicherweise haben alle überlebt. Aber auf beiden Seiten sind mehrere tausend Soldaten gestorben. Deshalb würde Jamila niemals sagen, dass Aserbaidschan "gewonnen" hat. „Ja, politisch gesehen, haben wir vielleicht bekommen, was wir wollten. Aber das kann ich doch nicht meinem Nachbarn sagen, wenn der vielleicht seinen Sohn verloren hat! Krieg ist so unmoralisch!“

Dabei hält die Kulturwissenschaftlerin den Anspruch Aserbaidschans auf Karabach im Prinzip für berechtigt. „Karabach ist für uns sehr wichtig. In Baku gibt es Öl und Gas, aber Karabach ist für uns die Hauptstadt der Kultur. Wir haben so viele Geschichten darüber, Gedichte, so viele Klassiker.“ Und da sind noch rund 800.000 Flüchtlinge, die im ersten Krieg vertrieben wurden. „Ich kenne eine Frau, die hat 30 Jahre lang den Schlüssel zu ihrem Haus aufbewahrt, weil sie dachte, sie könne wieder einmal zurück. Eine andere hat sich Erde von ihrem Grundstück aufgehoben.“

In Deutschland beklagt Jamila eine einseitig pro-armenische Berichterstattung. Zum Beispiel hieße es oft, Aserbaidschan sei im Gegensatz zum christilichen Armenien „islamisch“ geprägt. „Ich bin Muslim, in Aserbaidschan sind weit mehr als 80 Prozent Muslime, aber wir haben auch Juden, Christen, Atheisten. Ich kann nicht sagen, dass die Gesellschaft islamisch geprägt wäre. Wir trinken Wodka und sagen Inschallah! Genau so ist es."

Unterhält sich Jamila mit Leuten aus Armenien? „Für mich ist das kein Problem. Ich kenne viele aus der Viadrina, wir alle sind Menschen." Umgekehrt fühlt sie sich selbst aber oft als "türkisch" diskriminiert. Angehörige von Turkvölkern  – egal ob sie aus Aserbaidschan, Turkmenistan oder Usbekistan stammen – seien oft das Ziel von armenischen Vorurteilen, ja Hass. Dass Armenier, die Karabach jetzt verlassen, Berichten zufolge die Häuser anzünden, kann sie nicht verstehen. "Niemand fragt: Wie lange leben sie schon dort? Hat bis vor 25 Jahren nicht jemand ganz anderes in diesem Haus gewohnt?"

Aserbaidschan kann nicht vergessen und Armenien kann es ebensowenig. Die Massaker von Chodschali und Maraga aus dem ersten Krieg nicht, die mehr als hundert Toten in Baku nicht, die Anfang 1990 auf das Konto von Michail Gorbatschow gingen, und auch die vielen hunderttausend Intellektuellen nicht, die Stalin Ende der 1930er, Anfang der 40er Jahre umbringen ließ. Es sind schon zu viele Menschen gestorben.

Deshalb sind viele Aserbaidschaner auch gegenüber den russischen Friedenstruppen skeptisch, die das nun mit Armenien geschlossene Abkommen vorsieht. "Friedenstruppen", betont Jamila ironisch. „Weißt du, wir haben ein viel größeres Problem als Armenien und das heißt Russland! Aserbaidschan hat Rohstoffe und schon Lenin sagte, wenn wir eine Revolution wollen, dann müssen wir zuerst Baku haben!“

Aber es ist ihr peinlich, immer nur über Krieg und Politik zu reden, deshalb plaudern wir noch ein wenig über den aserbaidschanischen Mugam, eine sehr kunstvolle Musikform, ob nun klassisch oder mit Jazz, über Dolma (gefüllte Weinblätter), Plov und Kebab und über die historische Altstadt von Baku, in die sich Jamila manchmal zurücksehnt, wenn sie Stress im Studium hat.

Im Frühjahr will sie in ihre Heimat zurück. Vielleicht ein Job an der Universität, vielleicht im Ministerium, vielleicht auch irgendwann wieder nach Berlin für eine Doktorarbeit. „Ich habe schon so viel gesehen, Deutschland, Corona, Krieg. Mal abwarten, was in den nächsten 20 Jahren alles passiert“, sagt sie. Das wäre genau der richtige Moment, um mit Wodka und einem lauten »Inschallah!« anzustoßen, aber leider hat Nonne & Zwerg ausgerechnet an diesem Nachmittag zu.