Gewinner und Verlierer

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Vorläufige Analyse der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus

Gewinner der Berliner Wahl, vielleicht auch Verlierer: Kai Wegner. Foto: CDU

Die Wahl ist gerade ein paar Stunden vorüber, die Ergebnisse müssen verdaut werden, im Moment sortieren sich die politischen Parteien. Bürgerliche Medien versuchen derweil mit Macht, eine Koalition unter Führung des Siegers Kai Wegner (CDU) herbeizuschreiben. Trotzdem scheint nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2023 eine Regierung unter Franziska Giffey (SPD) am wahrscheinlichsten - also eine Fortsetzung der bisherigen rot-grün-roten Koalition. Die Berliner SPD dürfte kaum auf die Chance verzichten, erneut die Regierende Bürgermeisterin zu stellen, und sich stattdessen der CDU als mit Abstand kleinerer Juniorpartner andienen oder gar freiwillig in der Opposition verschwinden. Und zwischen CDU und Grünen sind in der Hauptstadt die gemeinsamen Schnittmengen gegenwärtig eher bescheiden.

Allerdings gibt es zwei Unsicherheitsfaktoren: Die SPD hat Platz zwei nur mit einem hauchdünnen Vorsprung von 105 Stimmen gegenüber den Grünen erreicht. Solche Zahlen sind ein bisschen wie beim Roulette. Käme es tatsächlich zu einer - durchaus sinnvollen - Neuauszählung, könnte sich das knappe Plus schnell ins Gegenteil verkehren. Läge die SPD aber nur auf Platz drei, wäre Franziska Giffey mit Sicherheit weg, die SPD müsste sich neu orientieren und hätte dann vielleicht nicht unbedingt Lust, sich ausgerechnet von Bettina Jarasch (Grüne) herumkommandieren zu lassen. Außerdem winken bei einer Zweier-Koalition mehr Senatorenposten.

Die zweite Unsicherheit ist das unüberhörbare Rumoren innerhalb der Berliner SPD. Dort ist jetzt viel von Demut und Neubesinnung die Rede, angeblich wird sogar über eine Ablösung Giffeys spekuliert. Diese wiederum soll bei einer Sitzung des Landesvorstands mit einer Großen Koalition geliebäugelt haben - trotz Verlust des Bürgermeisteramts. Was aus dieser Diskussion unter kräftiger Beteiligung der Bundes-SPD am Ende herauskommt, kann derzeit keiner wissen. Möglicherweise handelt es sich ohnehin um parteiinterne Manöver, welche die eigene Position stärken sollen. Ähnlich taktisch begründet dürften schwache Avancen von Jarasch in Richtung Christdemokraten sein. Das entfaltet Druck auf die SPD, der die Grünen bei einem praktisch identischen Wahlergebnis ja "unter Gleichen" begegnen wollen, hat aber vermutlich wenig Substanz. Bleibt es bei Rot-Grün-Rot, schaut die vorläufige Analyse folgendermaßen aus:

Verliererin oder Gewinnerin: Franziska Giffey. Foto: ks

Es ist eine Wahl der Doppeldeutigkeiten. Kai Wegner, den außerhalb Berlins bisher kaum einer kannte, führt die CDU zu einem großen, ja triumphalen Sieg. Mit 28,2 Prozent legt sie gegenüber 2021 um 10,2 Prozent zu und fährt das beste Ergebnis seit 1990 ein. Allerdings ist er wohl auch ein Verlierer. Medien sprachen von einem "Pyrrhus-Sieg". Ein falsches Bild: Wegner hat ja nicht so starke Verluste wie damals der griechische König Pyrrhus, dass er selbst keine Schlacht mehr schlagen kann. Der Sieg hilft ihm nur wenig. Eher ist er ein König ohne Land, der zwar die stärkste Partei anführt, aber trotzdem vielleicht keine Regierung bilden kann, weil niemand mit ihm koaliert. Demokratietheoretisch geht das übrigens völlig in Ordnung: Nirgendwo steht geschrieben, dass die stärkste Partei den Regierungschef stellt. Koalitionen gab es immer schon.

Die SPD hat verloren, minus 3,0 Prozent gegenüber der letzten Wahl, und da waren die 21,4 Prozent schon nicht gerade berauschend. Franziska Giffey hat die Sozialdemokraten auf schmähliche 18,4 Prozent dahinschmelzen lassen. Das ist, nun ja, das schlechteste Ergebnis in der gesamten Stadtgeschichte. Genossen dürften beim Blick auf die fast komplett schwarz-grün eingefärbte Wahlkreiskarte von kaltem Grausen geschüttelt werden. Die SPD hat gewonnen, weil sie erneut die Regierende Bürgermeisterin stellen kann. Die SPD hat wiederum verloren, weil das System Giffey nicht mehr funktioniert. Franziska Giffey war so etwas wie das bürgerliche Feigenblatt der linken Berliner SPD. Spätestens nach ihrer falschen Reaktion auf die Silvester-Krawalle war dieses Feigenblatt weg, jetzt steht die SPD nackt da und die Berliner wählen lieber das Original als die Imitation, also bürgerliche Kreise eben die CDU.

Die Grünen haben verloren, weil sie als Dritte im Bunde doch recht kläglich an ihrem Anspruch gescheitert sind, die neue Regierung zu führen. Zehn Prozent hinter der CDU, puuh! Sie haben gewonnen, weil unter Umständen alles so bleibt, wie es ist. Bettina Jarasch bleibt dann Verkehrssenatorin, kann die Friedrichstraße für den Autoverkehr öffnen oder sperren, wie sie Lust hat, und hoffen, dass die Alten allmählich wegsterben und es mit zunehmend jungen Grünen-Wählern irgendwann besser läuft. Die Grünen haben jedoch verloren, weil sie aus der aktuellen Klimadebatte zu wenig gemacht und viel mehr Profit hätten schlagen müssen, und weil man mit 18,4 Prozent der Stimmen bei lediglich 63 Prozent Wahlbeteiligung vielleicht in paar Bäumchen pflanzen, aber niemals das Weltklima retten kann - was ja ihr eigentliches Ziel darstellt. Ja, die geringe Wahlbeteiligung gegenüber 75,4 Prozent im Jahr 2021 ist auch nicht so toll - war aber schon mal noch niedriger.

Diese Wahl hat sehr deutlich die Spaltung Berlins in die Innenstadt etwa bis zum S-Bahn-Ring und das Umland deutlich gemacht. Innen dominieren mittlerweile die Grünen, außen die CDU. Die einst so mächtige SPD spielt auch bei den Erststimmen kaum eine Rolle mehr, die Linken ebensowenig. Sie arbeiten sich aus dem Osten langsam nach Neukölln vor, schmolzen aber um weitere 1,9 Prozent und nähern sich allmählich dem Niveau der AFD. Am Wahltag gab es übrigens eine interessante Umfrage von infratest / dimap zum beherrschenden Thema bei der Stimmabgabe: Ganze 23 Prozent der Befragten nannten Sicherheit und Ordnung, 17 Prozent Wohnen, 15 Prozent Klima, 14 Prozent Bildung, 12 Prozent Verkehr. Da melden sich die Silvester-Krawalle, klar, aber längst nicht nur diese. Offenbar wünschen sich viele Berliner, dass ihre Stadt wenigstens ein bisschen besser funktioniert.

Kai Wegner hat es geschafft, die einst so staatstragende CDU in Berlin zur Protestpartei zu machen - wobei die im Prinzip befreundete, aber unter der Bundes-Ampel leidende FDP unter die Räder kam. Protestwähler kommen und gehen. Ob er sie dauerhaft binden kann, ist fraglich. Aus Sicht der anderen Parteien stellt sich die Frage, ob man ein solches Protestpotential nicht besser einbinden, statt ignorieren soll. Oder in dem Fall: sich einbinden lässt. Die linke SPD hat ihr Feigenblatt verloren, Franziska Giffey ist - egal wie sie es anstellt - eine lame duck. Noch gibt es einige Gründe, SPD zu wählen, aber diese Gründe werden immer weniger und am Ende könnte die SPD zwischen CDU und Grünen zerrieben werden. Die Grünen wiederum haben Wahlkampf gegen einen beträchtlichen Teil der Berliner Bürger geführt, mit ihrer kompromisslosen Anti-Auto-Politik spalten sie anstatt zu inkludieren. Wer den Klimawandel ernsthaft begrenzen will, muss jedoch überzeugen. Zwangsmaßnahmen sind schwierig und letztendlich kontraproduktiv.

So. Jetzt warten wir ab, welche Koalition tatsächlich zustande kommt. Die Zukunft Berlins, irgendwann einmal, ist vermutlich Schwarz-Grün. Dazu müssen sich alle Beteiligten aber noch mächtig zusammenraufen.