Nichts ist unmöglich!

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Im Graefekiez werden demnächst Kartoffeln angebaut

Bunt und vielfältig: Kreuzberg im Frühling. Foto: ks

Ein wundervoller Frühlingstag, tiefblauer Himmel, im Graefekiez steht die Sonne schon etwas schräg. Volle Straßencafés, Gelächter, bunte Fähnchen flattern in der Luft. In diesem Moment ist Kreuzberg genau so vielfältig und bunt, wie ihm häufig attestiert wird. Überall Menschen, die herumstehen und diskutieren, jung und alt, mit und ohne Migrationshintergrund, eine Rollstuhlfahrerin, alle locker, entspannt und guter Stimmung. Bürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne) ist da, Umweltstadträtin Annika Gerold (Grüne), dazu Simon Wöhr von Paper Planes.

Ein "Markt der Möglichkeiten" will Ideen sammeln für die Nutzung des öffentlichen Raums, wenn erst die ungeliebten Autos einmal verschwunden sind. Was könnte künftig an ihre Stelle treten? "Himbeeren", empfiehlt eine grauhaarige Aktivistin mit Nachdruck. Seit zehn Jahren schon ernte sie ... Keine Bedenken wegen der allgegenwärtigen Hundepisse? Ein erstes Streitgespräch. Überdies lassen die verteilten Flyer leider zu wünschen übrig. Wichtige Infos fehlen. Der Text auf Englisch, Türkisch und erst an dritter Stelle auf Deutsch. Wohnen tatsächlich so viele Englischsprachler hier? Warum nicht Arabisch? In Leichter Sprache? Harmoniert das viele Wegwerf-Papier eigentlich mit der Zero-Waste-Strategie des Bezirks? Hmmmh.

Man kann via Telefon weitere Infos einholen, muss vorher eine Einwilligung unterschreiben und bekommt als Belohnung ein Bonbon. Ältere Herrschaften setzen sich ein seltsames Gerät auf die Nase und betrachten damit die Straße "aus der Perspektive eines Kindes". Die nächste Debatte, diesmal über "Bürgerwissenschaft". Anwohner sollen künftig Verkehr und Luftqualität im Quartier überwachen, so der Vorschlag. Was für ein blöder Begriff - entweder etwas ist tatsächlich Wissenschaft oder eben nicht. Klingt eher nach unbezahlter Arbeit. Wollte nicht das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) die Auswertung übernehmen? "Sind wir gar nicht dazu in der Lage", heißt es am Zickenplatz. Sie seien nur Soziologen, könnten zwar Leute befragen, allerhöchstens Autos zählen, Luftqualität und so Sachen aber nicht.

Böckhstraße mit Parklets, Bänken und Infotafel. Foto: ks

Alles in allem scheint beim "Markt der Möglichkeiten" die Sinnhaftigkeit der präsentierten Ideen gegenüber der guten Absicht eher im Hintergrund zu stehen. So eine Art lustiger, unverbindlicher Spielenachmittag für Erwachsene, denkt man. Fragt man bei den fremdsprachigen Aushilfsstudenten nach, welches Projekt jetzt von wem durchgeführt und vor allem wie finanziert wird, werden die Auskünfte schnell erstaunlich dünn. Immerhin sind erstmals Pläne zur neuen, parkplatzlosen Böckhstraße zu sehen. Mit Sitzbänken aus Massivholz, Holz-Containern, Infotafeln und mehreren Kita-Parklets. Ob der Boden darunter entsiegelt wird oder ob der Asphalt bleibt, ist offenbar noch unklar.

Auch eine Zeichnung kursiert, wo im Graefekiez überall Lade- und Lieferzonen sowie Jelbi-Stationen entstehen. Apropos Jelbi-Stationen: Werden die Elektroroller und Leihfahrräder auch tatsächlich dorthin zurückgestellt, wo sie entliehen wurden? Im gesamten Gneisenaukiez überfluteten diese gelben Jelbi-Dinger nämlich derzeit ... "Ja, werden sie", schwört die Dame vom WZB. Anderswo sei das vielleicht anders, aber im Graefekiez stünden künftig keine, wirklich keine Elektroroller wild in der Gegend herum. Das wisse sie ganz genau. Gut, werden wir sehen.

Nicht alle sind übrigens mit den Plänen einverstanden. Ein älterer Herr mit Sonnenbrille stellt sich als "Angehöriger der Arbeiterklasse" vor. "Das sind alles begüterte Akademiker, die morgens nicht aufstehen müssen", schimpft er. "Meine Schicht fängt morgens um halb fünf an!" Wie soll er da ohne Auto zur Arbeit kommen? Das als Alternative zu den entfallenden Parkplätzen empfohlene Karstadt-Parkhaus habe zwischen 24 und 6 Uhr zu, argumentiert er, lediglich im Innenhof seien 25 Plätze rund um die Uhr verfügbar. Kostenpunkt: 600 Euro pro Jahr. Nach Gutsherrenart werde da von SPD und Grünen ein Parkverbot von oben herab verordnet.  "Parkverbot im Graefekiez? Ick gloob et hackt!!!" ist ein Flugblatt überschrieben.

Geplante Ladezonen und Jelbi-Stationen. Foto: ks

Aber zurück zum "Markt der Möglichkeiten". Eine Initiative schlägt in der Böckhstraße den Anbau von Kartoffeln und anderem Gemüse vor. Niedliche Gewächshäuschen aus Glas mit Holzrahmen und Regenrinne auf Holzpaletten. Ja, ein bisschen Sonne hat es in der schmalen Straße schon. Aber Energieverbrauch und CO2-Ausstoß bei Bau und Transport! Und dann der flache Boden! Muss sich die Großstadt jetzt unbedingt wieder zurückentwickeln zum Dorf? Irgendwie wirkt es rührend, ja fast infantil, wie da eine Verkehrsfläche, die um 1860 - da waren die Autos noch gar nicht erfunden - in mühsamer Handarbeit angelegt und gepflastert wurde, ohne Not kaputt gemacht werden soll, nur um an genau dieser Stelle eine Handvoll kümmerliche Demonstrations-Kartoffelpflänzchen wachsen zu lassen - die doch auf einem Acker in Brandenburg viel besser gedeihen würden.


Schwierige Straßenverkehrsordnung

VZ 325: Verkehrsberuhigter Bereich

Dann gibt es noch Probleme mit der Straßenverkehrsordnung (StVO). Die Böckhstraße ist ein verkehrsberuhigter Bereich. Das bedeutet Schrittgeschwindigkeit, Fußgänger dürfen die gesamte Breite benutzen, sollen den Autoverkehr aber auch nicht unnötig behindern. Zusätzliche Verkehrszeichen sind unerwünscht. Die Gestaltung der Straßen muss den Eindruck vermitteln, dass die Aufenthaltsfunktion überwiegt - in der Regel durch niveaugleichen Ausbau über die gesamte Breite hinweg. Zudem muss Vorsorge für den ruhenden Verkehr getroffen werden.

VZ 250 mit Zusatz: Spielstraße

Weil das Verkehrszeichen 325 das bildlich nahelegt, wird ein verkehrsberuhigter Bereich oft als "Spielstraße" bezeichnet. Das ist genau genommen aber falsch und missverständlich. Wenn die BVV etwa im Juni 2022 forderte, alle Straßen im Graefekiez sollten als "Spielstraßen" ausgewiesen werden, meinte sie keine Spielstraßen, sondern einen verkehrsberuhigten Bereich.

Die Böckhstraße ist im Sommerhalbjahr von April bis September mittwochs von 14 bis 18 Uhr aber auch eine Spielstraße. Das bedeutet heftigere Einschränkungen: Eine Spielstraße ist gesperrt für alle Fahrzeuge. Autos, Motorräder, Roller, Fahrräder dürfen dort nicht fahren, Motorfahrzeuge auch nicht parken. Spielstraßen wurden in den 1920er-Jahren und nach den Zweiten Weltkrieg zeitweise eingeführt, bald aber wieder abgeschafft. Bundesweit sind sie - außer in Friedrichshain-Kreuzberg - aus der Mode gekommen, weil es genug Spielplätze gibt, spielende Kinder auf der Straße meistens Anwohner nerven und sich auf Asphalt relativ schlecht spielen lässt.

Für die Böckhstraße gilt außerdem, dass nach Ansicht von Experten eine Zufahrt mit Kraftfahrzeugen aus Richtung Westen ohnehin nicht möglich ist. Die Grimmstraße ist ab der Kreuzung Dieffenbachstraße in Richtung Norden als Fahrradstraße mit dem Zusatz "Anlieger frei" ausgeschildert. Wer in der Böckh- oder in der Graefestraße wohnt oder dorthin will, ist in der Grimmstraße aber kein Anlieger, darf sie also nicht benutzen und muss den Umweg über die Dieffenbachstraße wählen. Hält sich natürlich - wie in Kreuzberg üblich - kein Mensch daran.


Spielstraßen als erzieherische Maßnahme

Im Sommer ist die Böckhstraße mittwochs Spielstraße. Foto: ks

Mittwoch. Spielstraße. mogblog schaut nach, wie gut die Verbannung aller Autos funktioniert. Bei der Eröffnung am 5. April ist in der Böckhstraße wenig los. Kaltes Winterwetter, die paar Erwachsenen verlieren sich, allenfalls 15 kleine Kinder in Sicht. Einen Monat später deutlich mehr Aktivität, aber auch jetzt scheinen Eltern die treibende Kraft zu sein und veranstalten zum Beispiel ein lustiges Tauziehen unter sich. Und wie ist es mit dem Verkehr? Zwei rot-weiße Plastik-Schranken, dahinter sitzen vier "Kiez-Lotsinnen" mit türkisgrünen Westen und Migrationshintergrund. "Bitte, darf ich mit dem Fahrrad weiterfahren?" - "Ungern", antwortet eine freundlich. "Wegen der Kinder. Versuchen Sie es vielleicht seitlich auf dem Bürgersteig ..."

Leider falsch. Haben wir oben gelernt: In einer Spielstraße ist weder Auto-, noch Motorrad-, noch Fahrradverkehr erlaubt. Die Ordnerinnen kennen offensichtlich die Regeln nicht oder sie sind ihnen schlicht egal. Tatsächlich sind auf der Spielstraße in einer gefühlten halben Stunde mehr als 30 Fahrräder unterwegs. Darunter ein veritables Lastenfahrrad, zwei Elektroroller und drei Radler so schnell, dass es fast zu gefährlichen Situationen kommt. Die Kiez-Lotsinnen plaudern währenddessen entspannt und reagieren nicht. Darauf angesprochen, behaupten sie, sie würden "beleidigt und angespuckt", wenn sie versuchen würden, Fahrradfahrer zurechtzuweisen.

Vom Ordnungsamt ist zu diesem Zeitpunkt niemand zu sehen. Am 5. April erschienen sie gleich zu dritt und verteilten säuberlich Knöllchen auf Knöllchen, kein einziges parkendes Auto wurde ausgelassen. Wäre das Ordnungsamt doch auch an anderen Stellen ähnlich präsent! Motorräder und Roller wurden, soweit erkennbar, nicht abgemahnt. Mit Blick auf die vorschriftswidrigen Radler hieß es damals, ja nun, man kümmere sich eben lediglich um den ruhenden Verkehr.

Und was lernen wir daraus? Es entsteht der Eindruck, als lege der Bezirk zweierlei Maßstäbe an. Autofahrern geht es an den Kragen, Fahrradfahrer bleiben verschont - obwohl sie gleichermaßen gegen geltende Regeln verstoßen. Und die Spielstraße ist weniger eine Spielstraße als vielmehr eine erzieherische Maßnahme gegenüber Autobesitzern, die schon mal lernen, dass sie einmal in der Woche umparken müssen, bevor sie später ihren Parkplatz komplett verlieren. So gewöhnen sie sich daran.