Link:sradikale demonstrieren am 8. Mai in Kreuzberg
Wenn zuweilen gefragt wird: "Wem gehört Kreuzberg?", dann ist das schwierig zu beantworten und es geht um so weitreichende Dinge wie Gentrifizierung, steigende Mieten und verdrängtes Kleingewerbe im Souterrain. Wer hingegen in Kreuzberg demonstrieren darf, lässt sich spontan und viel leichter entscheiden - sogenannte Querdenker nicht, Linke natürlich schon. Am 24. April wollten um die 70 Corona-Relativierer durch die Bergmannstraße ziehen und scheiterten an geballtem Widerstand. Zwei Wochen später zeigte das linke bis linksextreme Spektrum, wie man das macht, und marschierte vom Platz der Luftbrücke über Bergmann- und Gneisenaustraße bis zum Spreewaldplatz.
Es war der Tag der Kapitulation oder der Befreiung, aber eigentlich ging es um das große Ganze, um die "Opfer von Faschismus und Patriarchat" und im Detail um Rassismus und vermutete Nazis bei den Sicherheitsbehörden. Ein warmer, windiger Tag, die Sonne schien über Tempelhof. Weil es am 1. Mai Randale gegeben hatte, fürchteten manche schon eine Fortsetzung. Aber abgesehen von ein paar Rauchbomben an der Hasenheide blieb es ruhig. Die Veranstalter hatten eine "kämpferische Demo" angekündigt, aber auch versichert: "Von uns geht keine Eskalation aus!" Und daran hielten sie sich. Die Polizei hatte nicht einmal Helme aufgesetzt und machte sich, so gut es ging, unsichtbar.
Am Platz der Luftbrücke haben sich um 14 Uhr rund 1500 Menschen versammelt, später, am Görlitzer Park, sind es wohl an die 5000. Eine junge Frau wettert mit sich überschlagender, hysterischer Stimme gegen das "kapitalistische Scheißsystem". Von "faschistoiden" Netzwerken innerhalb der Polizei ist die Rede, schon im Demoaufruf hieß es, dass sich speziell der Berliner Sicherheitsapparat "der demokratischen Kontrolle nach Belieben entzieht". Ähnlich die Parolen: "Polizei = Nazibrei", "Bei der Polizei ist alles doof!" oder, hübsch gereimt: "Bullenhass gibt's nie zu viel / Kommunismus ist das Ziel!" Und immer wieder, besonders laut: "Ganz Berlin hasst die Polizei!"
Nun ja, ganz Berlin sicherlich nicht. Als der Demozug mit seinen drei, vier Lautsprecherwagen in die Bergmannstraße einbiegt, harmonieren die ernsten, von der Wichtigkeit des eigenen Anliegens erfüllten Mienen nur schlecht mit dem üblichen Samstagnachmittags-Einkaufstrubel. Vor Edeka hat sich auf dem Trottoir eine lange Corona-Schlange gebildet. Aus einem Fenster ertönt dünner Beifall. Es gibt eben keine besetzten Häuser mehr, schon zu viel weggentrifiziert: Die meisten Passanten scheinen sehr viel mehr daran interessiert, ihr leckeres Lammkarree für den Wochenendschmaus nach Hause zu bringen, als dem System und dem allgegenwärtigen Faschismus den Garaus zu machen.
Unterschriftensammler für "Deutsche Wohnen enteignen!" sind unterwegs. An der Ecke zur Gneisenaustraße gibt Polizeisprecherin Anja Dierschke der "Berliner Morgenpost" ein Interview. "Die Polizei tritt auch ganz klar gegen Rassismus bei der Polizei ein", sagt sie trocken. An der Marheinekehalle feiert eine kleine Gruppe Alt-Alternativer das Wochenende derweil mit einem Umtrunk. Ja, natürlich sind sie auch gegen rechte Strukturen. "Wir unterstützen den Protest virtuell", heißt es mit einem Augenzwinkern. Aber so ganz haben sie ihre eigenen Demo-Erfahrungen von früher nicht vergessen. "Da drüben stand die ganze Zeit ein Reservetrupp der Polizei in der Seitenstraße", sagt einer.
Dann sind die Demonstranten um die Ecke gebogen, die Parolen verklingen. So. Jetzt stellt sich tatsächlich die Frage, was zum Wochenende auf den Tisch kommt. Die Corona-Schlange vor der Edeka-Filiale ist nicht kürzer geworden.