Orgie der Vernichtung

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Großer Andrang beim Sperrmülltermin in der Fürbringerstraße

Sperrmüllabfuhr in der Fürbringerstraße. Die hübschen roten Bänke rechts sind kein Sperrmüll, sondern gehören Pörx. Foto: ks

Auf der Fürbringerstraße zwischen Mittenwalder und Zossener geht es sonst eher ruhig zu. Kinder spielen vielleicht auf dem Trottoir, gemächlicher Parksuchverkehr, zum Wochenende hin stellt der freundliche Blumenladen bunte Pflanzen raus. Vor Liberda lümmeln ein paar Müßiggänger herum und drei, vier Spatzen picken die von ihnen hinterlassenen Brösel auf. Nicht so am Samstagvormittag: Da war Sperrmüllabfuhr! Was für ein grandioses Spektakel!

Vormittags um halb elf türmten sich die Matratzen, Bettroste, Schrankteile, Stehlampen, Tische, Stühle und Regale auf dem schmalen Bürgersteig meterhoch. Als wollte die halbe Straße plötzlich den Wohnsitz wechseln! Ständig kamen von jenseits der Zossener noch weitere Nachbarn mit nicht mehr benötigten Utensilien in der Hand angelaufen. Am Ende reichte die Sperrmüll-Schlange fast zurück bis zum Blumenstand und wer sich die Mühe machte nachzuzählen, kam auf 50 Menschen, die da mit erwartungsvollen Gesichtern im tröpfelnden Regen standen und warteten. Fast fühlte man sich erinnert an die leidige Schlange während der letzten Bundestagswahl.

Unmut kam auf. Tobias wollte einen großen Schrank loswerden, hätte mit seinen vielen Einzelteilen aber wohl zehnmal anstehen müssen. Frustriert beschloss er, sich besser mit dem Auto und offener Kofferraumklappe zum Recyclinghof in der Gradestraße auf den Weg zu machen. Andere kehrten samt Wohnzimmersessel wieder genervt nach Hause zurück. Das war nicht so geplant! Problem: Der Lastwagen der Berliner Stadtreinigung (BSR) akzeptierte nur Elektroschrott, das eigentliche Müllfahrzeug war zwar am Morgen schon da gewesen, musste jetzt aber erst zeitraubend entladen werden. Offenbar hatte beim Bezirk niemand mit einem solchen Ansturm gerechnet.

Irgendwann hörte der Regen auf, der mächtige Müllschlucker kehrte zurück und die Aufregung legte sich. Nun wanderte Stück für Stück in sein hungriges Maul. Versiffte Matratzen, auf denen das Kind gezeugt oder die Oma gestorben war. Abgewetzte Sofas und Sitzgarnituren, deren Besitzer heftig herumgeknutscht oder auch nur jahrzehntelang belanglose Talkshows angeguckt hatten. Tischplatten, Stühle, Computerruinen, stumme Zeugen nie abgeschickter Liebesbriefe oder plagiierter Doktorarbeiten. Erinnerungen, ganze Leben zogen vorbei. So tat es Tom, wie er sagte, im Herzen weh, ein eigenhändig für die Tochter gebasteltes Regal nun einfach wegzuwerfen.

Stahlprofile, dicke Kanthölzer, Glasscheiben - der knallorange Faun Variopress kannte kein Erbarmen. Mit einem dunklen, obszönen Quietschen fraß er alles gierig in sich hinein. Eine Orgie der Vernichtung! Wie die katholische Beichte einst Sünden vergab, so befreite die monströse Maschine von den kontaminierten Hinterlassenschaften früherer Leben und machte großmütig Platz für neue. Wie entlastend das sein kann und wie viel Spaß im Übrigen Zerstörung bereitet, ließ sich an der Entschlossenheit, ja Wut erkennen, mit der Mitbürger ihre Mitbringsel in den Abgrund donnerten.

Auch sonst gab es viel zu beobachten. Alte Röhrenfernseher etwa lassen sich nur schlecht auf kippeligen Kinderwagen-Untergestellen transportieren. Wer scharfkantige Spanplatten mit bloßen Händen trug oder breite Matratzen gar nur mit einer Hand balancieren wollte, geriet schnell an seine Grenzen. Neue Beziehungskonflikte deuteten sich an. Eine anscheinend im Müllgeschäft tätige Großfamilie schaffte vor dem allgemeinen Exitus noch das eine oder andere Schnäppchen auf die Seite - vor allem Kaffeemaschinen und Großbildschirme waren gefragt. Außerdem ist so ein Sperrmülltermin natürlich wunderbar geeignet, um Nachbarn zu treffen und mit ihnen gemeinsam über andere Nachbarn herzuziehen.

Und was lernen wir jetzt daraus? "Alles was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht", könnte man mit Blick aufs große Ganze philosophieren. Ein paar Nummern kleiner: Wie schon 2021 hat das Bezirksamt auch dieses Jahr in Kreuzberg vier Abholtermine organisiert. Das ist eine nette Idee, aber in einem Bezirk, der zunehmend auf das Auto - und damit auf die selbstständige Müll-Anlieferung bei den Recyclinghöfen der BSR - verzichten will, bestenfalls eine symbolische Aktion. Denn offenbar ist der Bedarf riesig.

Wirklich helfen gegen die wachsende Vermüllung könnte nur eine regelmäßige, kostenlose Sperrmüllabfuhr. Die gibt es in anderen Städten und was dort möglich ist, sollte auch in Berlin möglich sein.