Siege und Niederlagen

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Ein Marathonlauf macht nicht jeden glücklich

Beim Marathon läuft der innere Schweinehund immer mit. Foto: ks

Stimmt, am Wochenende war ja nicht nur Wahl, sondern auch Marathon. Am Samstag gingen schon die Inline-Skater auf Strecke, sie rauschten in lauten Schwärmen vorbei, da konnte man sich in einer Bushaltestelle bequem mit einer Freundin kleine und große Begebenheiten aus dem Leben erzählen und dazwischen immer wieder staunen, wie schnell sie sind. Der Sonntag dann begann mit einer erfreulich autofreien, weil abgesperrten Mittenwalder Straße, kaum Leute unterwegs, ein gut gelaunter älterer Herr kümmerte sich um die Absperrungen und erzählte lustig, dass er mit seinen 80 Jahren immer noch läuft. Ja, nein, Marathon natürlich nicht mehr.

Kommen sie endlich? Sie kommen aus Richtung Südstern, aus der milden, warmen Herbstsonne. Erst ein wie verrückt blinkendes SUV, dann rote Radfahrer, Philipp springt mit seiner Knipse immer wieder ins Bild, noch mehr rote Radler, aus einem SUV mit Lautsprecher dudelt "Amarillo" von Tony Christie. Noch eine Kette türkisgrüne Ordnungs-Radler, die das eher spärliche Publikum zur Seite scheuchen, ein SUV mit der Zeit 0:53:31 auf dem Dach, am Himmel nerviges Hubschraubergedröhn. Und dann ist sie da, die siebenköpfige Spitzengruppe mit Guye Adola aus Äthiopien im gelben Hemd, seinen Tempomachern in Schwarz-Weiß und einem blauen Kenianer.

Schlanke, grazile Gestalten mit braunen, glänzenden Körpern. Leichtfüßig, schmalgliedrig, ein wenig erinnern sie an edle, sehr teuere Rennpferde. Und unglaublich schnell! Vor ein paar Jahren, 2018, bei ähnlich gutem Wetter, schien die Spitzengruppe fast zu schweben. Heute sieht man ihnen trotz der federnden, kraftvollen Schritte in den Gesichtern die Anstrengung an. Immer wieder werfen sie lauernde Blicke zur Seite. Die Details für sportlich Interessierte: Adola und der Kenianer Philemon Kacheran hatten sich zu diesem Zeitpunkt ein Stück vom Favoriten Kenenisa Bekele abgesetzt, der später in der Yorckstraße dann aber wieder auflief. Am Ende gewann Adola vor Bethwel Yegon (Kenia) und Bekele. Und nein, kein neuer Weltrekord.

Marathon - das ist ein Tag der Siege und Niederlagen. Auf die Spitzengruppe folgen ganze Heerscharen von Profi- und Freizeitläufern, Welle auf Welle, trotz Corona dieses Jahr noch knapp 25.000. Abgesehen davon, dass Dabeisein natürlich alles ist, entfaltet sich das Drama der menschlichen Existenz mit all seinen Höhen und Tiefen wie auf einer Bühne, Minute um Minute, Stunde und Stunde. Zuerst die Halbprofis mit ihren starken Körpern und ausgeglichenen Bewegungen, souverän und verbissen im Takt der "HeartBeaters" an der Ecke Mittenwalder. Es bereitet Freude, ihnen zuzusehen und natürlich schwört man sich voller Begeisterung: Das nächste Mal, also das nächste Mal bin ich ganz sicher mit dabei!

Jeder hat seinen eigenen Laufstil. Viele noch mit Kraft in den Beinen, manche machen seltsame kleine Trippelschritte, werfen mit durchgedrücktem Hohlkreuz den Kopf in den Nacken und wedeln angestrengt mit den Armen durch die Luft. Wenn sie in der Gneisenaustraße erscheinen, haben sie alle 18 Kilometer hinter sich. Eine lange Strecke, die natürlich Spuren hinterlässt. Der 3:45-Stunden-Tempomacher passiert, dann reißt es ab. Niels ist der erste, der aufgibt. Sein Name steht unter der Läufernummer auf dem Trikot, er schaut unglücklich aus, hat einen knallroten Kopf und trottet an der Seite noch ein wenig mit.

Es werden mehr. Männer mit sich wölbenden Bierbäuchen, extra aus Norwegen, Irland oder Kanada angereist. Frauen mit dicken Hintern und deutlichem Übergewicht, ältere Herrschaften, die müde und erschöpft vor sich hin humpeln - alle haben sie kaum die Figur für so eine extreme Anstrengung. Füße heben sich kaum über den Boden und schlorchen nur noch alibimäßig über den Asphalt. Der 4:00-Stunden-, der 5:00-Stunden-Tempomacher. Nun wird es bitter. Immer wieder brandet demonstrativ Beifall auf, wenn mal wieder einer mehr kriecht als dass er läuft, und man fragt sich, ob das nicht eigentlich Mitleid ist.

Die Straße füllt sich mit Schicksalen. Eine Karawane der Mühseligen und Beladenen, von hoch gesteckten Erwartungen, Überschätzung, Scheitern und angeschlagenem Selbstwertgefühl. Abgekämpfte, wankende Gestalten am Ende ihrer Kräfte, die nur noch die Angst vor dem unerbittlichen Besenwagen hinter sich weitertreibt. Dabei hatte der Tag doch so großartig mit den Spitzenläufern begonnen! Im Ernst: Muss es unbedingt Marathon sein? Reicht nicht vielleicht auch ein harmloser Fünf- oder Zehn-Kilometer-Lauf?

Okay, gönnen wir uns erst mal ein Schokobrötchen im Lieblingscafé.