Ausschuss diskutiert über freie Fahrt zum Urbankrankenhaus
In Kreuzberg gibt es ein einziges Krankenhaus, das Klinikum am Urban. Es ist ein sehr großes Krankenhaus mit 614 Betten, einer zentralen Notaufnahme, 242 Ärztinnen und Ärzten, 562 Pflegekräften und 189 sonstigen Mitarbeitern. Jährlich werden hier rund 65.000 Patienten behandelt, 1500 Babys kommen zur Welt. Und es ächzt unter der Corona-Pandemie. Während der zweiten Welle war die Klinik häufig voll ausgelastet und selbst aktuell melden "low care" und "high care" Engpässe. Die Beschäftigten im Klinikum am Urban arbeiten seit Monaten an ihrer absoluten Belastungsgrenze, sie kämpfen um das Leben der ihnen Anvertrauten und wenn sie diesen Kampf verlieren, dann wird hier oft genug gestorben.
Der gesamte Publikumsverkehr von und zur Klinik südlich des Landwehrkanals wurde bisher über die Grimmstraße abgewickelt. Kein Problem: Von der viel befahrenen Urbanstraße 165 Meter durch eine Tempo-30-Zone, dann links ab in die Dieffenbachstraße bis zum Krankenhaus. Das ist oder besser: war die einzige Zufahrt für Ärzte, alle anderen Beschäftigten, für Patienten und alle Zulieferer. Nur für Taxis ist die Klinik auch von Westen her erreichbar, Rettungsfahrzeuge im Einsatz fahren ohnehin, wo sie wollen.
Vergangenen Sommer hat das Bezirksamt nun die Grimmstraße zur Fahrradstraße erklärt und damit diese Zufahrt versperrt. Dabei geht es gar nicht um die Fahrradstraße als solche - diese schafft durchaus einige Probleme, die hier aber nicht besprochen werden müssen. Es geht um das Zusatzschild: "Anlieger frei". Laut Rechtsprechung ist "Anlieger", wer in der Grimmstraße selbst wohnt oder dort ein "Anliegen" hat. Wer mit dem Auto zum Krankenhaus will oder von dort kommt, ist in diesem Sinne kein "Anlieger" und darf die Straße deshalb auch nicht mehr benutzen. Er muss stattdessen einen langen, umständlichen Umweg über die Graefestraße oder das Planufer nehmen - das ist ein verkehrsberuhigter Bereich mit Schwellen, in dem allenfalls Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf.
Man kann das so zusammenfassen: Ausgerechnet mitten in der Covid-19-Pandemie, wo Ärzte permanent am Limit arbeiten, wo Angehörige um das Wohl ihrer Liebsten bangen, wo unter extremsten Bedingungen um das Leben von Menschen gerungen wird, macht es das Bezirksamt allen Beteiligten zusätzlich schwer und zwingt sie mutwillig jeden Tag auf dem Weg zur oder von der Arbeit, auf der Fahrt zu oder mit Kranken durch ein verkehrsberuhigtes Tempo-7-Labyrinth. Um das Problem zu lösen, müsste man gar nicht einmal neu über die Fahrradstraße nachdenken. Man müsste lediglich auf diesen 165 Metern Grimmstraße das Verkehrsschild ändern. Zum Beispiel von "Fahrradstraße / Anlieger frei" in "Fahrradstraße / Kfz-Verkehr frei". Dazu aber ist das Bezirksamt offenbar nicht bereit.
mogblog hat in zwei Artikeln (hier und hier) auf die Situation hingewiesen. In der BVV hat Timur Husein (CDU) das Thema aufgegriffen und vorgeschlagen, die Schilder auszutauschen. Sein Antrag wurde letzte Woche im Ausschuss für Soziales, Jobcenter, Bürgerdienste, Gesundheit vorbesprochen.
Wenn Politiker vor der Realität die Augen schließen wollen, haben sie viele Tricks - das gilt für die große Politik genauso wie für die kleine. Wir stellen vor:
• Am besten gar nicht darüber sprechen! Der Ältestenrat der BVV hatte das Thema auch dem Gesundheitsausschuss zugewiesen - schließlich geht es um die Zufahrt zu einem Krankenhaus. Trotzdem stellte Bündnis 90 / Die Grünen dort einen Antrag auf Nichtbefassung. Damit hatten sie zwar keinen Erfolg. Aber wenn die stärkste Fraktion über eine heikle Angelegenheit gar nicht erst reden will, kommt das nicht wirklich gut.
• Ist doch alles nur vorübergehend! Das war ein Einwand von Claudia Schulte (Bündnis 90 / Die Grünen). Tatsächlich handelt es sich wohl um eine "temporäre Fahrradstraße" - aber macht das die Situation für das abgehängte Kranhaus irgendwie besser?
• Es gibt noch viel größere Probleme! Sozialstadtrat Knut Mildner-Spindler (Linke) wies darauf hin, dass das Urbankrankenhauses ohnehin "den Zugang auf der falschen Seite hat, nämlich vom Wasser her". Darüber habe er im Sommer mit der Geschäftsführung gesprochen. Bis man das eventuell einmal ändern können, "ist es noch weit", sagte er. Allerdings war das nicht das Thema. Es ging lediglich darum, dass die Klinik bisher über die Grimmstraße sehr gut und ohne Umwege erreichbar war und das seit Sommer nicht mehr ist.
• Einfach etwas behaupten, ohne groß auf Argumente einzugehen! Das probierte Kolja Fuchslocher (Linke) aus Friedrichshain. Aus seiner Sicht ist das Kreuzberger Krankenhaus "gut angebunden", die Zufahrtsmöglichkeiten reichten aus. So auch Mildner-Spindler: Schließlich sei ein Zugang von der Urbanstraße her nach wie vor möglich, befand er, jetzt eben über Graefe- und Dieffenbachstraße statt wie bisher über die Grimmstraße. Damit sei die Diskussion "erschöpft", dekretierte der Sozialstadtrat, und der Antrag "gegenstandslos".
Leider ist das wohl falsch. Es macht schon einen Unterschied, ob Ärzte, Pflegekräfte, Patienten, Angehörige und alle Zulieferer auf dem kürzesten Weg zum Ziel gelangen oder ob sie auf Umwegen und mit Tempo 7 über die Schwellen eines zuvor mit großem Aufwand verkehrsberuhigten Wohngebiets gescheucht werden - dessen Bewohner sich im übrigen für den zusätzlichen Verkehrslärm bedanken werden. Und das alles nur wegen eines einzigen Verkehrsschilds, das ohne Not ausgewechselt werden könnte.
An Ende stimmten lediglich CDU, FDP und AFD für ungehinderten Zugang zum Krankenhaus, die Linke war dagegen, Grüne und SPD enthielten sich. Bei einem Patt von drei gegen drei Stimmen wurde der Antrag damit vom Ausschuss abgelehnt. Aber noch ist die Hoffnung nicht verloren, dass sich insbesondere Linke und SPD auf die Belange von Ärzten, Pflegern und Patienten - die aktuell am engagiertesten gegen die Pandemie kämpfen und am heftigsten unter ihr leiden - besinnen und das nicht der bürgerlichen Opposition überlassen. Am Donnerstag, 11. März, um 18:30 Uhr geht es im Ausschuss für Umwelt, Klimaschutz, Verkehr und Immobilien in die nächste Runde.