BVV-Fraktionen nehmen Stellung zu mogblog-Beitrag
Vor einem Monat hat mogblog einen Artikel über die neue Pop-up-Fahrradstraße zwischen Südstern und Mariannenplatz veröffentlicht. Zentrale Aussage: Ausgerechnet mitten in der Corona-Pandemie behindert sie - oder besser: ihre Beschilderung - die Zufahrt zum Urbankrankenhaus. Dieser Text hat ein umfangreiches Echo ausgelöst. Auch Fraktionen in der BVV und das Bezirksamt haben auf mogblog-Anfrage darauf reagiert. Hier sind ihre Antworten:
Katja Jösting (Die Linke): "Wir unterstützen die Einrichtung von zusätzlichen Verkehrsbereichen für Fahrradfahrende und vor allem zu Fuß Gehende. Aber wie z.B. beim Wohnungsbau braucht es auch bei Verkehrsprojekten die Beteiligung von Anwohnenden, Gewerbetreibenden sowie Feuerwehr und Rettungsdiensten, bevor (!) diese Maßnahmen umgesetzt werden. Nur so lassen sich unnötige und ggf. gefährliche Konflikte vermeiden und Akzeptanz für die unerlässliche Verkehrswende erreichen."
Uwe Hübsch (SPD): "Die SPD-Fraktion hat von der Einführung der Pop-up-Radwege erst aus der Presse erfahren. Das zeigt, wie selbstherrlich der grüne Stadtrat Florian Schmidt im Bezirk agiert. Es gibt im Bezirk einen Radwegeentwicklungsplan. Hinter diesem steht die SPD-Fraktion. Für dessen Umsetzung sind allerdings umfangreiche Untersuchungen notwendig. Diese wurden bei der Einführung der Pop-up-Wege nicht erstellt. Wo Probleme benannt werden, müssen sie geprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Das gehen wir an."
Timur Husein (CDU): "Als CDU-Fraktionsvorsitzender werde ich den Sachverhalt prüfen und ggf. die Aufhebung der Fahrradstraße im Bezirksparlament fordern. Vielen Dank für den Artikel."
Michael Heihsel (FDP): "Die Situation um das Urbankrankenhaus zeigt, wie unüberlegt die Verkehrsplanung beim Bezirksamt mittlerweile abläuft. Die Philosophie, unter dem Deckmantel der Corona-Krise, reguläre Planungsverfahren zu umgehen, erzeugt regelmäßig mehr Schaden als Nutzen. Anwohner und Ansässige, wie hier etwa das Krankenhaus, werden nicht beteiligt. Die Verkehrsströme, die dabei entstehen, entlasten nicht. Im Gegenteil: Sie erzeugen Stau und höhere Umweltbelastungen durch steigenden Verkehr. Stattdessen sollte sich das Bezirksamt auf die Beschleunigung der ordentlichen Verfahren konzentrieren und Verkehrsinfrastruktur nachhaltig gestalten."
Die Grünen haben leider nicht geantwortet, AFD und Die Partei wurden nicht angefragt.
Das Bezirksamt: "Die Fahrradstraße wurde temporär angeordnet und eingerichtet. Die Einrichtung erfolgte dabei streng nach dem Leitfaden der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Die temporäre Einrichtung dient dazu, Änderungsnotwendigkeiten im provisorischen Betrieb festzustellen und Nachbesserungen bei der Verstetigung der Fahrradstraße zu ermöglichen. Im Anhörungsverfahren wurde die Polizei, und somit auch die Belange der Rettungsdienste, eingebunden. Das aufgezeigte Beispiel zeigt eine solche Nachbesserungsnotwendigkeit auf, die dem Bezirksamt auch aus eigener Beobachtung bekannt ist. Daher wird das Bezirksamt bei der künftigen verkehrlichen Gestaltung eine Lösung erarbeiten, welche die Belange des Krankenhauses und der verkehrsberuhigten Bereiche berücksichtigt."
In den Social Media herrschten eher sarkastische Reaktionen vor. "Vermutlich ist der nächste Schritt dann die Umstellung auf Krankenfahrräder mit einem Anhänger für die Trage", hieß es. Oder ganz böse: "Egal ob einer drauf geht, Hauptsache sie haben eine eigene Bezirks-Schokolade!" Bei Facebook meinte eine Userin aber auch: "Ach, das hört sich aber etwas überdramatisiert an!"
mogblog bedankt sich für alle Stellungnahmen. Der vom Bezirksamt erwähnte Leitfaden findet sich hier. Dabei könnte in der Grimmstraße die Maßgabe, dass Radverkehr jetzt oder alsbald die "vorherrschende Verkehrsart" sein muss, mit Blick auf das Urbankrankenhaus problematisch werden. Außerdem ist unverständlich, warum sich nach einem halben Jahr die Beschilderung an der Urbanstraße immer noch widerspricht (siehe Fotos). Auch eine "temporäre Einrichtung" bzw. ein "provisorischer Betrieb" sollte, was Verbote und Gebote angeht, natürlich eindeutig sein.
Rücksichtslos und wie ein Messer: Grimmstraße einst und jetzt
Die neue Pop-up-Fahrradstraße schafft eine ganze Menge Probleme. In der Körtestraße geht es darum, den Durchgangsverkehr auszubremsen - bisher mit nur mäßigem Erfolg. In der Grimmstraße behindert die neue Ausschilderung den Verkehr zum und vom Urbankrankenhaus. Am nördlichen Ende der Grimmstraße existiert gar keine Fahrradstraße mehr. Die wuchernde Beschilderung endet, bleibt nur ein schmaler gepflasterter Weg durch Poller hindurch hoch zum Landwehrkanal, wo er frontal auf eine Reihe neu installierter Fahrradbügel prallt. Also müssen Radler rechts über das Trottoir ausweichen (was bekanntlich verboten ist) oder gleich den Umweg über den Radweg links nehmen (was ohnehin niemand macht). Das anschließende Planufer ist verkehrsberuhigte Zone, Schrittgeschwindigkeit, nicht unbedingt das passende Umfeld für die gerühmte schnelle Verbindung Südstern - Mariannenplatz.
Aber das nur am Rande. Hier soll es um die Grimmstraße gehen, also den Abschnitt zwischen Urbanstraße und Planufer. Zur Veranschaulichung hat mogblog mit Bordmitteln zwei grobe Skizzen erstellt. Die erste (links) zeigt den Zustand ohne Pop-up-Fahrradstraße. Die Grimmstraße und die westliche Dieffenbachstraße zum Krankenhaus sind Tempo-30-Zone, alles andere ist ein ausgedehnter verkehrsberuhigter Bereich mit Graefestraße, Böckhstraße, östlicher Dieffenbachstraße und auch noch Schönleinstraße, der bis zum Kottbusser Damm reicht. Markiert durch das bekannte "Spielstraßen"-Schild mit einem Erwachsenen, einem Kind und einem Ball.
Man erkennt schnell, dass der südliche Teil der Grimmstraße die Anbindung des Urbankrankenhauses gewährleistet. Grimmstraße und Dieffenbachstraße - und nur diese - führen zu den Parkplätzen für Klinikpersonal, Patienten, Angehörigen und zum Lieferanteneingang. Sie bilden außerdem einen zentralen Zugang zur Rettungsstelle. Entsprechend ist die Grimmstraße von der Urbanstraße aus ausgeschildert - und das ist sie bemerkenswerterweise heute noch. Außerdem hat die Grimmstraße eine klare Erschließungsfunktion für Müllenhoffstraße, östliche Dieffenbachstraße und Böckhstraße, die nicht komplett vom Kottbusser Damm oder der verkehrsberuhigten Graefestraße aus bedient werden können. Sammelstraße sagen die Verkehrsplaner dazu. Sie bündelt den Ziel- und Quellverkehr aus dem Wohnviertel, sorgt für kurze Wege und ist dabei mit Tempo 30 selbst deutlich entschleunigt.
Was finden wir also? Eine überlegte, kompetente und ausgewogene Planung, die einerseits dem Krankenhaus mit seinen 242 Ärzten, 562 Pflegekräften, 189 sonstigen Mitarbeitern und jährlich 65.000 Patienten Rechnung trägt, andererseits aber auch östlich davon einen vollständig verkehrsberuhigten Bereich ermöglicht ohne jeden Durchgangsverkehr, mit Bodenwellen, Diagonalsperren und temporären echten Spielstraßen. Ein perfektes Beispiel für eine den Verhältnissen vor Ort angepasste, moderne Verkehrsplanung im Sinne der Anwohner, könnte man meinen.
Die zweite Skizze (rechts) zeigt den Zustand mit Pop-up-Fahrradstraße. Man begreift auf den ersten Blick, was das für eine Katastrophe ist. Rücksichtslos und wie ein Messer schneidet die neue Trasse durch das vorhandene, sorgsam austarierte System von gegenseitigen Abhängigkeiten. Das liegt weniger an der Fahrradstraße an sich (wenn man sich auch schwer Besuchs- und Lieferverkehr eines wichtigen Krankenhauses vorstellen kann, der den Radverkehr - wie bei einer Fahrradstraße vorgeschrieben - "nicht behindert"), als an ihrer Ausschilderung.
Benutzen dürfen sie außer Radfahrern nur Anlieger - und Besucher oder Beschäftigte im Urbankrankenhaus sind in der Grimmstraße keine Anlieger. Das bedeutet klipp und klar: Eine Zufahrt zur Klinik ist seit Sommer über die Grimmstraße nicht mehr möglich. Stattdessen bleibt die umständliche, langwierige Anfahrt über verkehrsberuhigte Zonen - Planufer, östliche Dieffenbachstraße, Graefestraße. Damit tobt nun der gesamte Autoverkehr zum und vom Urbankrankenhaus durch genau das Viertel, aus dem man diese Art von Verkehr eigentlich mit großer Anstrengung verbannen wollte. Im Grunde sabotiert der Bezirk mit seiner temporären Fahrradstraße die gesamte bisherige Verkehrsberuhigung im nördlichen Graefekiez.
Es kommen noch ein paar Kollateralschäden hinzu, dass nämlich auch Bewohner der Müllenhoff-, Dieffenbach-, Böckh- oder Graefestraße die Grimmstraße nicht mehr mit Auto oder Motorrad benutzen dürfen, um nach Hause zu kommen oder von dort in Richtung Urbanstraße wegzufahren. Parken in der Grimmstraße ist ebensowenig erlaubt. Aber das fällt angesichts der Einschränkungen für das für Kreuzberg so wichtige Krankenhaus schon fast nicht mehr ins Gewicht.
Bleibt anzumerken, dass das, was man da auf unserer improvisierten Skizze sieht, nicht unbedingt den Eindruck einer soliden Verkehrsplanung hinterlässt. Eher scheint es, als ob eine politisch erwünschte Lösung ohne Rücksicht auf die konkreten Verhältnisse vor Ort mit der Brechstange durchgesetzt werden soll. Verkehrsströme und -bedürfnisse spielen dabei keine Rolle - selbst wenn sie so existenzieller Natur wie die Anbindung einer Klinik sind. Kurze Wege werden ohne Not verlängert, Verkehre nicht aus den Wohnvierteln herausgehalten, sondern in sie hineingeführt. Da muss man nicht erst ein halbes Jahr lang testen und im "provisorischen Betrieb" nach "Änderungsnotwendigkeiten" Ausschau halten, um herauszubekommen, dass das nicht funktioniert. Warum macht jemand sowas?
Kommentar: Warum macht jemand sowas?
Wir haben bisher zwei wichtige Gesichtspunkte unterschlagen. Einmal würde es vermutlich einen großen Teil der von der Pop-up-Fahrradstraße geschaffenen Probleme lösen, wenn als Zusatz nicht "Anlieger frei", sondern "Kfz-Verkehr frei" auf den Schildern stünde. "Kfz-Verkehr frei" bedeutet freie Zufahrt zum Krankenhaus und freie Zufahrt zu allen Nebenstraßen - die Grimmstraße könnte wieder ihre überaus nützliche Funktion als Sammelstraße erfüllen und die Fahrradfahrer hätten keinen Schaden davon. Ende gut, alles gut! Allerdings wäre die stolz ausgerufene Mobilitätswende dann eben auch ein klitzekleines Stückchen weniger revolutionär und das käme bei der starken Fahrradlobby im Bezirk bestimmt nicht so gut an.
Eine zweite Ergänzung: Die Darstellung des Status quo orientiert sich an der Beschilderung und an den geltenden Verkehrsregeln, geht mithin also davon aus, dass ein Verkehrsteilnehmer sich daran hält. Das ist in Kreuzberg natürlich nicht der Fall. Gerade umgekehrt ist zu erwarten, dass ein Großteil der Beschäftigten und der Klinikbesucher die neuen Schilder schlichtweg ignoriert, selbstverständlich nicht die langen Umwege durch verkehrsberuhigte Zonen in Kauf nimmt und stattdessen durch die Grimmstraße zum Krankenhaus fährt, wie er es immer getan hat - zumal die Schilder an der Urbanstraße ohnehin beide Deutungen erlauben. Der Ernstfall tritt überhaupt erst dann ein, wenn einmal zufällig ein Polizist auf der Kreuzung steht und die geltenden Regeln durchsetzt bzw. das durch die Fahrradstraße entstandene Durcheinander sichtbar macht. Dann kommen plötzlich alle angelaufen und der Kiez brennt.
Behält man die obige Frage im Hinterkopf, könnte man auf die Idee kommen, das sei vielleicht sogar einkalkuliert. Mit der Beschilderung "Anlieger frei" hat der Bezirk in der Grimmstraße eine Situation geschaffen, die sich regelkonform kaum bewältigen lässt. Aber unter Umständen ist das gar nicht vorgesehen. Vielleicht geht es gar nicht um Verkehrsplanung, sondern um eine Art Taschenspielertrick: Radfahrer und ihre Interessenverbände, die eine Fahrradstraße haben wollen, bekommen sie. Das macht Eindruck, bestätigt die eigene Meinungsführerschaft in Sachen Verkehrswende und bringt bei der Wahl im September vermutlich Stimmen. Beschäftigte, Besucher und Lieferanten, welche die Fahrradstraße nicht haben wollen, also weiterhin durch die Grimmstraße zur Klinik fahren (müssen), nun ja, die können das gerne tun. Die entsprechenden Schilder stehen noch und Polizei ist ja meistens keine da.